Niki de Saint Phalle - Die Lebensgeschichte (optimiert für Tablet-Computer)
Und schon gar nicht der Insulinschock, der ihr ebenfalls verabreicht wird. Der macht sie nur ganz zittrig, unruhig und schwach.
Im Garten Zweige und Blätter zu sammeln, beruhigt sie schlieÃlich. »Schöne Formen«, denkt sie und beginnt unwillkürlich, sie zu Mustern zu legen. »Klebstoff bräuchte ich. Und Farben, unbedingt! Ich muss Harry darum bitten.«
Kaum kann sie es erwarten, bis er das nächste Mal kommt und ihr das Gewünschte bringt. Dann kaum, dass er wieder geht, damit sie endlich anfangen kann.
Schon als sie alles herrichtet â das Papier, die Stifte â durchströmt sie ein Gefühl der Ruhe. Sie nimmt die erste Farbe in die Hand, setzt den Stift aufs Blatt und zieht eine Linie. Weitere folgen. Was entstehen wird, weià sie noch nicht. Sie beginnt mit einer Idee
und setzt ein Detail davon um, ohne zu wissen, wie genau sie das Blatt sonst noch füllen wird.
So malt sie stundenlang.
Tagelang.
Dabei reinigt und heilt sie ihre Seele.
Psst, nicht stören! Niki lüpft gerade den doppelten Boden ihrer magischen Box. Vorsichtig, ganz vorsichtig. Was dort heraus will, flieÃt aufihr Papier. Und Ruhe kehrt ein. Niki umarmt die KUNST als ihre ERLÃSUNG und lässt sie fortan nicht mehr los.
Es ist das Jahr 1953 und Niki ist â noch â 22 Jahre alt. Bald hat sie Geburtstag. Nach sechs Wochen kann Niki die Klinik wieder verlassen. Doch 14 Tage später findet sie eines Freitags einen Brief von ihrem Vater im Postkasten. Was sie da zu lesen bekommt, ist seine Beichte: »Sicher erinnerst du dich, wie ich dich mit elf Jahren zu meiner Geliebten machen wollte â¦Â«
»Nein, Daddy, NEIN!!«
AN NICHTS ERINNERT SIE SICH!
»Erinnerst DU dich an was?«, befragt sie aufgewühlt ihre Box.
Doch bevor diese antworten kann, überfällt Niki schlagartig eine heftige Migräne. Sie kotzt und kotzt, bis nur noch reine Galle kommt.
Auch Harry ist entsetzt.
Der Psychiater aber, dem sie den Brief zeigt, verbrennt ihn einfach. Er glaubt schlichtweg nicht, dass die Bekenntnisse des Vaters wahr sind, so ungeheuerlich erscheinen sie ihm.
Doch ein Gutes hat der Brief immerhin: Niki hat jetzt einen Anhaltspunkt, um ihre Gefühle und ihr Verhalten zu verstehen und zu verarbeiten.
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Bild 5
Die Meerjungfrau im Strawinsky-Brunnen in Paris. Die Figur erinnert an die fröhlichen, dicken, bunten Nanas von Niki.
Kunst als Erlösung
Ich male jeden Tag und SORTIERE mein INNERES CHAOS.
H ier entstehen gerade zwei Frauen. Grün muss diese Frau werden. Wegen Ãbelkeit? Ekel? Angst? Egal. Grün jedenfalls. Und sie bekommt rote Haare. Wie Feuer wachsen sie aus ihrem Kopf. Genauso rot ist der Boden, auf dem sie steht. Oder schwebt sie? Sie fällt gleich um! Ihre Hände hält sie zu Fäusten geballt vor ihren Bauch.
Die zweite Frau streckt beide Hände nach der anderen aus. In ihren hellen Farbtönen sieht sie sehr gelassen aus. Ruhig sitzt sie da. Und doch schweben die beiden wie in einer Traumwelt.
Tisch und Stuhl müssen noch dazu: etwas Handfestes aus der realen Welt. Upps, etwas schief sind sie geraten.
»Harry, wie malt man perspektivisch richtig?«
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Harry bewundert Nikis Lebenswillen, ihren Optimismus und ihren Mut. Angestachelt durch ihr Vorbild, beschlieÃt er jetzt, die Musik aufzugeben und sich ebenfalls dem zuzuwenden, was er im Grunde schon immer machen wollte: Schreiben.
Er zeigt Niki, wie man perspektivisch malt. Aber sie kann es sich nicht merken, sagt sie. Ihr ureigener Blick auf die Dinge drängt sich zu sehr in den Vordergrund. Und mal ehrlich: Würde »Fruits et
vin«, wie Niki dieses Bild nennt, nicht auch sehr komisch aussehen mit Möbeln, die perfekt gemalt wären?
Günstige Zeiten für Niki
»Unperfektes« solcher Art wird in der Kunstwelt mittlerweile akzeptiert. Ein Glück für Niki, dass sie in diese Zeit hineingeboren ist. Vor Jahrzehnten schon haben Künstler begonnen, sich diesen Freiraum zu erkämpfen. Unbeirrbar revolutionierten sie die MaÃstäbe, nach denen Kunst beurteilt wird. Sie selbst wurden dafür häufig noch verhöhnt und angefeindet. Doch sie setzten ihre Ziele dagegen:
»Wer sagt denn, dass Kunst schön sein muss?«, so ein Credo.
»Ich male das Unsichtbare!«, ein anderes. (Hoppla, wie das denn?)
»Mich interessiert nur der Rhythmus der Formen und Farben â ohne Bezug zur
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