Nimm dich in acht
konzentriert, daß sie Susan nicht bemerkte.
Nedda war in ihrer gewohnten Arbeitspose erstarrt - mit dem linken Arm auf dem Schreibtisch abgestützt, hielt sie mit der linken Hand ihre Stirn, während ihre rechte Hand über dem dicken Aktenordner verharrte, der geöffnet vor ihr lag, um bei Bedarf weiterzublättern. Das kurzgeschnittene silbergraue Haar war schon jetzt zerrauft, ihre Halbbrille rutschte ihr an der Nase herunter, und ihr kompakter Körper vermittelte den Eindruck, als wolle sie jeden Augenblick aufspringen und fluchtartig den Raum verlassen. Sie war eine der renommiertesten Anwältinnen von New York, doch ihre eher mütterliche Erscheinung ließ auf den ersten Blick kaum vermuten, mit wieviel Geschick und aggressiver Energie sie ihrer Arbeit nachging, was besonders ins Auge fiel, wenn sie vor Gericht einen Zeugen ins Kreuzverhör nahm.
Die beiden Frauen hatten sich vor zehn Jahren an der Universität von New York kennengelernt und Freundschaft geschlossen. Susan, damals zweiundzwanzig, studierte im zweiten Jahr Jura, und Nedda war Gastdozentin. In ihrem dritten Studienjahr hatte Susan ihre Seminare so geplant, daß sie an zwei Tagen in der Woche für Nedda arbeiten konnte.
Mit Ausnahme von Nedda war es für ihre Freunde ein ziemlicher Schock, als Susan nach zwei Jahren ihren Job als Assistentin des Staatsanwalts von Westchester County an den Nagel hängte und wieder zur Uni ging, um ihren Doktor in Psychologie zu machen. »Ich muß es einfach tun.« Mehr sagte sie damals nicht zur Erklärung.
Schließlich spürte Nedda doch, daß Susan in der Tür stand, und hob den Kopf. Ihr flüchtiges Lächeln war herzlich. »Sieh mal an, wer da ist. Wie war dein Wochenende, Susan? Oder soll ich lieber nicht fragen?«
Nedda war sowohl über Binkys Party als auch über den Hochzeitstag von Susans Mutter im Bilde.
»Meinen Erwartungen entsprechend«, erwiderte Susan trocken. »Am Samstag ist Dee bei Mom eingetrudelt, und die beiden haben sich zusammen die Augen ausgeheult.
Ich habe Dee gesagt, ihre Depressionen würden es Mutter nur noch schwerer machen, mit ihrer Situation zurechtzukommen, und daraufhin ist sie über mich hergefallen. Sie sagte, wenn ich vor zwei Jahren hätte mitansehen müssen, wie mein Ehemann von einer Lawine in den Tod gerissen wird, so wie sie Jacks Tod mitansehen mußte, dann würde ich begreifen, was sie durchzumachen habe. Außerdem hat sie angedeutet, daß ich Mom eine viel größere Hilfe wäre, wenn sie sich ab und zu mal an meiner Schulter ausweinen könnte, statt sich immerzu anhören zu müssen, sie solle wieder anfangen zu leben. Als ich sagte, ich hätte schon Arthritis in der Schulter von all den Tränen, ist Dee nur noch wütender geworden. Aber Mom hat wenigstens gelacht.
Und dann die Party bei Dad und Binky«, fuhr sie fort.
»Übrigens will Dad jetzt, daß ich ihn ›Charles‹ nenne, und das sagt ja wohl alles zu diesem Thema.« Sie seufzte.
»Das war mein Wochenende. Noch eins von dieser Sorte, und ich brauche selbst professionelle Hilfe. Aber ich bin zu billig mit meinen Honoraren, um mir selbst einen Therapeuten leisten zu können, also werde ich mich wohl mit Selbstgesprächen begnügen müssen.«
Nedda betrachtete sie mitfühlend. Sie kannte als einzige von Susans Freunden die ganze Geschichte von Jack und Dee, von Susans Eltern und ihrer schmutzigen Scheidung.
»Klingt so, als ob du ein Überlebenstraining brauchen könntest«, sagte sie.
Susan lachte. »Vielleicht fällt dir ja was für mich ein.
Setz es auf meine Rechnung, Kumpel, zu den übrigen Schulden, die ich noch bei dir habe, weil du mir den Job beim Radio verschafft hast. Jetzt verziehe ich mich mal lieber. Ich muß noch was für die Sendung vorbereiten.
Ach, übrigens - habe ich in letzter Zeit mal danke gesagt?«
Vor einem Jahr hatte Marge Mackin, eine beliebte Radiomoderatorin und enge Freundin von Nedda, Susan zu ihrer Sendung ins Studio eingeladen. Sie sollte als Rechtsexpertin und Psychologin einen aufsehenerregenden Prozeß kommentieren. Der Erfolg ihrer ersten Stippvisite im Radio führte dazu, daß sie regelmäßig an der Sendung teilnahm, und als Marge zum Fernsehen überwechselte, bot man Susan an, sie als Moderatorin der täglichen Talkradioshow zu ersetzen.
»Ach, Unsinn. Du hättest den Job nicht bekommen, wenn du nicht kompetent wärst. Du bist verdammt gut, und das weißt du auch«, sagte Nedda entschlossen. »Wer ist heute dein Gast?«
»In dieser Woche konzentriere ich mich
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