Nimm mich, wie ich bin
herschwang. Endlich rutschte sie ganz nach hinten auf den Sessel, und einen Moment danach blickte sie zu Chance und Tim, wobei sie es wohlweislich vermied, herunterzuschauen. “Ich bin okay.”
Chances Herz hatte mehrere Male fast ausgesetzt. “Sie hätten ruhig erwähnen können, dass Sie unter Höhenangst leiden.”
“Ich habe keine Angst.”
“So wie Sie sich neulich auch nicht verirrt hatten?”
Ally blickte stur geradeaus. “Ich habe jetzt alles unter Kontrolle.”
“Vielleicht sollten wir mit Ihrer Rettung anfangen, was meinen Sie?”
“Oh nein, wegen mir brauchen Sie doch nicht extra die Reihenfolge zu ändern.”“
Jos Funkgerät knisterte in diesem Moment, und sie hörten die Stimme von Michelle, ihrer Rezeptionistin. “Ich habe ein wichtiges Gespräch für Ally. Ihre Schwester Maggie.”
Jo hob den Kopf und sah zu Ally hinauf, die sich so fest an die linke Stange des Lifts klammerte, dass die Knöchel ihrer Hand weiß hervortraten. “Ally? Es ist Ihre Schwester.”
“Kann sie eine Nachricht hinterlassen?”
Jo fragte Michelle, und die antwortete: “Es ist ein Notfall.”
“Ist etwas mit meinen Eltern?” Allys Stimme klang rau vor Sorge. Ihre Angst war fast vergessen. Sie schaffte es sogar hinunterzublicken, obwohl sie immer noch kreidebleich war. “Oder mit meinen anderen Schwestern, Tami und Dani?”
Es vergingen mehrere Sekunden, in denen Jo sich bei Michelle erkundigte.
Chance beobachtete Ally, aber sie sah ihn nicht an. Sie saß nur sehr still da. Ihre Stiefel sahen plötzlich so klein aus, wie sie da über ihm hingen, und erinnerten ihn wieder daran, wie zierlich Ally war. Tina war auch zierlich gewesen …
Endlich kam die Antwort von Michelle. “Der Notfall geht ihr Scheckbuch an. Offensichtlich braucht sie mehr Geld.”
Jo stieß einen erleichterten Seufzer aus.
Tim stieß einen erleichterten Seufzer aus.
Brian schüttelte verächtlich den Kopf.
Ally stöhnte auf. “Ich rufe später zurück. Sehr viel später.”
Jo gab die Nachricht an Michelle weiter.
Dann hörten alle, wie Michelle erwiderte: “Ally? Maggie sagt, sie weiß, dass Sie Dani und Tami vor Kurzem Geld geschickt haben, aber sie hat sich neue Sommerkleidung kaufen müssen, weil man nicht von ihr erwarten könnte, in ihren alten Sachen herumzulaufen. Jetzt hat sie nur so viel Geld übrig, um sich Spaghetti mit Käse als Fertiggericht aus der Tiefkühltruhe zu kaufen. Und sie hasst Tiefkühlkost.”
Ally schloss die Augen. “Sagen Sie ihr, Ravioli aus der Dose sind billiger.”
Alle lachten, sogar Ally brachte ein Lächeln zustande, obwohl Chance auffiel, dass sie wieder starr geradeaus blickte. “Entschuldigung. Offenbar hat meine Schwester keine Ahnung, was ein wirklicher Notfall ist.”
Chance hatte dasselbe eigentlich von Ally angenommen, aber offensichtlich war doch sehr viel mehr an ihr dran, als er geglaubt hatte. Tatsächlich wusste er nur sehr wenig über sie. Nur dass sie offenbar ihre Schwestern unterstützte, und das bedeutete, dass sie außer über große, ausdrucksvolle Augen und eine Abenteuerlust, die noch sein Tod sein würde, auch über einen tief verwurzelten Sinn für Loyalität verfügte.
Ihm fiel auf, dass Jo ihn dabei erwischte, wie er Ally nachdenklich anstarrte. Sie hob neugierig eine Augenbraue.
Er wandte sich verlegen ab, aber Jo folgte ihm. “Ich kann nicht fassen, was du gerade denkst”, flüsterte sie.
“Ich denke ans Essen.”
Sie lachte. “Ja, und zwar an etwas sehr Leckeres.”
Zwei Stunden später waren sie bei ihrem fünften und letzten Durchgang der Rettungsübung.
Allys Zähne klapperten, aber sie hatte glücklicherweise wieder festen Boden unter den Füßen. Immer wieder wanderte ihr Blick zu Chance, der souverän seine Mannschaft anwies. Alle sahen mittlerweile wie ertrunkene Ratten aus.
Alle bis auf Chance.
Zum Teufel mit ihm, aber er sah gut aus. Er trug die gleiche Regenkleidung wie die anderen, aber seine Mütze ließ ihn nicht lächerlich wirken, sondern betonte seine großen dunkelblauen Augen. Eine nasse Locke war ihm in die Stirn gefallen, und sein Ohrring glitzerte.
Ally stellte sich vor, wie er zu seiner Hütte ging und sich die nassen Sachen auszog. Er sieht bestimmt umwerfend aus ohne alles, dachte sie und seufzte.
Dann sah er über die Schulter und genau zu ihr herüber, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. Ein unangenehmes Zittern durchlief sie, und sie wandte als Erste den Blick ab. Aber zwei Sekunden später sah sie ihn wieder
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