Nimmermehr
mir.«
»Wer war sie?«
»Meine Mutter?«
»Ja.«
»Sie war gerissen.« Selina musste mit einem Mal lachen. »Dabei erinnere ich mich kaum an sie. Einmal nur hat sie mich mit in die Wälder nahe der Küste genommen. Wir sind umhergelaufen und haben uns frei gefühlt. Ja, sie war ein richtiger Luchs.«
Und ich hatte gedacht, dass ich sie kannte. »Ist Selina dein richtiger Name?«
»Die anderen Katzen nennen mich die Lady Lynx.«
Ich berührte die Stelle, an der sie verletzt worden war. »Für mich wirst du immer Selina sein.«
»Ich weiß.«
»Du hast mir geholfen.«
»Das ist es, was wir Katzen tun. Wir beschützen die Menschen.«
»Tut es noch weh?«
»Es geht vorüber.«
»Warum hast du das getan?«
»Dir geholfen?«
Ich nickte nur.
»Miss Shoshti, der das Hotel gehört, war einst eine Göttin in Indien. Sie ist nach New York gekommen und erfüllt ihre Aufgabe jetzt in Amerika.« Sie berührte die Stelle an meinem Kopf, an der man mich geschlagen hatte. »Das waren böse Menschen«, flüsterte sie. »Und es ist die Aufgabe der Katzen, die Dämonen zu vertreiben.« Dann schenkte sie mir ein zauberhaftes Lächeln. »Davon abgesehen habe ich es getan, weil ich dich liebe.«
»Wirst du bei mir bleiben?«
Sie senkte den Blick. »Ich bin eine Katze.«
Das war alles, was sie sagte.
Ich nahm sie in die Arme und roch an ihrem Haar, das hell war wie das meiner Retterin.
In der vergangenen Nacht hatte ich kein Auge mehr zugetan. Irgendwann war Selina in meinen Armen eingeschlafen und hatte träumend geschnurrt wie ein kleines Kätzchen. Erst als die Sonne ihre Finger nach dem Horizont reckte, übermannte auch mich der Schlaf.
Als ich erwachte, war es bereits heller Tag, ohne Wolken, und die Eisblumen auf dem Fenster glitzerten anmutig.
Selina war verschwunden.
Ich sah mich in der Wohnung um. Der Koffer, der immer an der gleichen Stelle gestanden hatte, war verschwunden.
Langsam erhob ich mich und wankte zur Tür. Beinah wäre ich über ein kleines Päckchen gestolpert, das jemand reglos auf die Schwelle gelegt hatte. In braunes Paketpapier war es eingewickelt.
Ich hob es auf und wog es in meiner Hand.
Mein Name stand auf dem Papier. In Selinas Handschrift.
Leer und abweisend starrte mich das Zimmer an, das immer schon leer gewesen war, dafür aber mit einem Koffer darin.
Meine Hände zitterten, als ich das Papier zerriss.
Mir schwindelte.
Es war ein Buch, das sie mir geschenkt hatte.
Die alte zerfledderte Taschenbuchausgabe von »Frühstück bei Tiffany«.
Sonst nichts.
»Holly Golightly«, hörte ich Selina sagen, »war eine Katze.«
Ich ging zum Fenster und ließ mich neben der rasselnden Heizung auf dem Boden niedersinken.
»Katzen«, hatte Selina mir erklärt, »sind ruhelose Wanderer.« jetzt wusste ich, was sie gemeint hatte.
Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Ich ging durch die Straßen, und schließlich endete mein Weg im East River Park. Der Fluss sah kalt und grau aus an diesem Morgen. Die Schiffe, die den Fluss kreuzten, stießen dicke Rauchwolken aus, und hinter der Wand aus Schneeflocken und Rauch erkannte man die Lagerhäuser und Docks von Brooklyn. Der Verkehr auf der Williamsburg Bridge schickte seine Abgase in den Himmel, und es sah aus, als dampfe die ganze Stadt.
Der East River roch faulig, und ich fragte mich, wie Selina sich in Cape Cod gefühlt hatte.
Ein Schlepper tuckerte den Fluss hinauf und verschwand hinter einer Biegung. Wie seltsam, dachte ich. Wird dieser Schlepper doch nie mehr von der Welt zu sehen bekommen als die beiden Flüsse, die Manhattan umarmten wie ein Matrose sein Mädchen.
Plötzlich gefiel mir der Anblick des Schiffes nicht mehr.
Selina, das wusste ich, würde nicht auf mich warten, wenn ich nach Hause kam.
Katzen sind ruhelose Wanderer.
Und ich verstand, was sie gemeint hatte, als sie von der Wahrheit gesprochen hatte; jener Wahrheit, die sich in der Lüge verborgen hält und das Herz desjenigen, der sie entdeckt, zerbrechen kann.
Nachtfahrt
Stephen Edwin Milligan, der seit seinem fünften Lebensjahr von den Menschen, die ihn kannten, »Steve« gerufen wurde, betrachtete müde sein blasses Gesicht im Fenster des Busses, während draußen ein schemenhaft dunkles New England vorbeirauschte. Steve schloss die Augen und versuchte ein wenig Schlaf zu finden, bevor er Chester Springs erreichen würde.
Vor sechs Stunden noch hatte Steve mit Kopfschmerzen in der gigantischen Halle der Grand Bus Station von Boston gestanden und
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