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wo sie aussteigen. Steif wie ‘n Stock gehen sie vorüber,
geringschätzig, hochmütig, den Blick in die Ferne gerichtet, auf ein
unerreichbares Irgendwo, der Teufel weiß wohin, vorbei an Leuten, die sich
drängen, ein Lächeln auf den Lippen, einen Kuß auf Lager.
Tja, das ist ja alles sehr
interessant, läßt aber Hélène nicht auf der Bildfläche erscheinen. Mich tröstet
nur, daß Grégoire auch nicht mehr Glück hat mit seiner Familie.
Jetzt steigt niemand mehr aus.
Die Bahnbeamten schlagen die Wagentüren zu. Der letzte Schub Reisender geht gemächlich
auf den Ausgang zu. Keine ähnelt meiner hübschen Sekretärin.
Plötzlich stößt Grégoire ein
erleichtertes Grunzen aus. Er stürzt auf eine Frau zu, neben der eine
Bohnenstange von sechzehn Jahren stakst. Die glückliche Familie küßt sich
gefühlvoll ab. Dann treibt Grégoire die beiden zu mir rüber und stellt uns
gegenseitig vor.
„Aber sagen Sie, wo ist Ihre
Sekretärin?“ fragt er lauernd.
„Tja, mein Lieber, die Frage
stell ich mir schon ‘ne ganze Weile.“
„Sieht so aus, als wär sie
nicht hier, hm?“
„Dem Auge des Gesetzes entgeht
nichts“, antworte ich lachend.
„Wird wohl den Zug verpaßt
haben.“
„Bestimmt. Ich seh mal nach,
wann die nächsten kommen.“
Mit vorzüglicher Hochachtung
entkomme ich dem Trio. Inspektor Grégoire geht mir mächtig auf den Pinsel. Außerdem
hab ich ‘ne Stinkwut auf Hélène. Laß mich ungern in den April schicken, vor
allem Anfang Mai.
Am Informationsschalter
erkundige ich mich, wann die nächsten Züge aus dem Süden kommen. Dann verlasse
ich den Bahnhof. Komm mir ziemlich blöd vor. Traurig, alleine wie ‘ne alte
Brotkante unterm Bett.
Drei Algerier lehnen sich über
die Brüstung des Bahnhofsvorplatzes, von wo man auf die Rue de Chalon
hinuntersehen kann. Mal sehen, wofür sie sich so lebhaft interessieren. Im
Moment bin ich für jede Ablenkung zu haben. Eine fliegende Fliege, ein
Taxifahrer, der einen Kollegen anschnauzt, oder irgendein anderes Pariser
Schauspiel. Ich nähere mich also der Brüstung.
Die drei sind nicht besonders
schlecht gekleidet, sehen aber unbeschäftigt und sehnsüchtig aus. Wie alle. Sie
starren auf die Passage Moulin, auf die ausgetretenen Bürgersteige und das
holprige Straßenpflaster. Drei Voyeure, drei Unentschlossene oder drei
Zuhälter, die ihre Mädchen auf dem Strich beobachten. Denn in der Passage
Moulin laufen ein paar Huren vor den schäbigen Stundenhotels rum.
Passage Moulin, Passage Brunoy,
Passage Raguinot: das Chinesische Viertel. Von wegen! Das war einmal.
Vielleicht vor einigen Jahren. Hab das Gefühl, daß die Himmelssöhne heute von
den Algeriern gefressen werden.
Ich bleib noch ein wenig bei
meinen melancholischen Mauren stehen und seh mir die Huren zu Festpreisen an.
Dann hau ich ab. Werd mich auf die Terrasse des Café des Cadrans setzen, mir
einen Aperitif bringen und von dem Schauspiel, das der Boulevard zu bieten hat,
die Zeit vertreiben lassen. Ausnahmsweise regnet es gerade mal nicht. Zeit, ‘ne
Kleinigkeit zu essen. Kauend warte ich auf den Abendzug, den man mir genannt
hat. Aber Hélène ist auch bei dieser Fuhre nicht dabei. Moral von der
Geschieht: Laß sie nie alleine an die Côte d’Azur fahren!
Intermezzo
auf der Achterbahn
In meiner Einsamkeit geh ich
dorthin, wohin alle Einsamen gehen: auf den Jahrmarkt.
Nachdem ich begriffen hatte,
daß Hélène an diesem Abend nicht mehr ankommen würde, bin ich zurück zur
Terrasse des Café des Cadrans gegangen, um den fälligen digestif zu
trinken. Dann holte ich meinen Wagen aus der Rue Abel und fuhr ohne bestimmtes
Ziel los. Richtung Paris-Centre. Hatte noch keine Lust, ins Bett zu
gehen. Hatte nicht mal Lust, mir Gedanken darüber zu machen, wozu ich
eigentlich Lust hatte. Hatte einfach keine Lust. Wie spät war es? Hätte
nachsehen können. Keine Lust. Als ich an einer Ampel warten mußte (wozu ich
auch keine Lust hatte!), fiel mein Blick auf ein Plakat: Foire
du Trône millénaire . Dazu hatte ich Lust!
* * *
Man hat keine Mühen und Kosten
gescheut. Eingangs der Place de la Nation steht eine Kulisse, die nach Sägemehl
von abgehobelter Tanne und nach frischer Farbe riecht. Soll das Tor und die
dicken grauen Mauern einer mittelalterlichen Stadt darstellen. Ich gehe durch
eine Art Triumphbogen aus bunten Glühbirnen. Zu meiner Begrüßung dröhnt ein
Plattenspieler, der unter einer Pechnase still auf der Lauer gelegen hat, Les
Lavandières du Portugal in
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