Noah: Thriller (German Edition)
Rundgang, also dachte ich, das Schicksal hat uns mit Absicht zusammengeführt und der liebe Gott wird meine Nächstenliebe sicher belohnen. Und tjaha, das tut er. Und wie er das belohnt, Scheiße.«
Oscar blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und schrie den Himmel an: »Herr, ich bin so glücklich, heute im Freien pennen zu dürfen. Bitte mach es schön kalt, nicht so warm wie im Asyl, das ist besser für die Durchblutung, und zu heißes Duschen soll ja auch nicht so gesund für die Haut sein.«
Ein Geschäftsmann, der ihnen auf dem Bürgersteig entgegenkam, warf den Obdachlosen einen abfälligen Blick zu und eilte kopfschüttelnd weiter.
»Du hättest nicht mitkommen müssen«, wiederholte Noah und schloss zu Oscar auf, der sich wieder in Bewegung gesetzt hatte. Im Inneren des Rucksacks, den er sich so wie Patricia bäuchlings vor die Brust gebunden hatte, spürte er eine leichte Bewegung, als Toto seine Lage veränderte.
Oscar presste wütend die Lippen aufeinander, dann deutete er auf den Rucksack vor Noahs Bauch. »Den Hund mitzunehmen war wirklich das Bescheuertste, was du tun konntest.«
»Aber?«, fragte Noah nach, da Oscar mit der Stimme oben geblieben war, als wollte er noch etwas hinzufügen.
»Aber es hat mir auch gezeigt, dass ich mich in dir nicht getäuscht habe.«
»Du meinst, ich bin ein guter Mensch, weil ich mich um das Tier kümmere?«
»Quatsch. Jeder zweite Penner schleppt permanent seinen Köter mit sich rum. Und genau das ist es.« Er setzte sich wieder in Bewegung, und Noah hatte Mühe, ihn zu verstehen, weil Oscar jetzt von ihm abgewandt gegen den Wind sprach.
»Das ist was?«, hakte er nach, bemüht, zu ihm aufzuschließen.
»Ich will sagen, dass ich keinen Tippelbruder kenne, der jemals einem Fremden sein Tier anvertraut hätte. Nicht mal für eine Nacht.« Er warf Noah einen fragenden Blick aus den Augenwinkeln zu. »Wie hast du es nur geschafft, dass Pattrix dir ihren Rucksack gegeben hat?«
Noah zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht. Ich hab ihr nur versprochen, dass ich mich gut um Toto kümmern werde.«
Sie näherten sich einer Brücke und überquerten einen zugefrorenen Fluss, der den Straßenschildern zufolge Spree hieß. Wie so oft hatte Noah keine Ahnung, wohin Oscar ihn führte, aber an diesen Zustand hatte er sich gewöhnt. Die letzten Tage war er ihm wie ein Hund hinterhergetrottet. Zuerst apathisch wie in Trance und mittlerweile zunehmend verzweifelt. Die Realität, in der er aufgewacht war, war ihm so unwirklich erschienen wie ein böser Traum, aus dem er jede Minute aufzuwachen hoffte. Doch als er nach und nach begriff, dass weder seine Schusswunde noch Oscar noch das nach Staub und Schmieröl stinkende Tunnelversteck unter der Erde sich als Sinnestäuschung entpuppen würden, hatte ihn eine Phase der Ratlosigkeit gelähmt. Wohin sollte er gehen? Mit wem sprechen? War er auf der Flucht? Wurde er wirklich von bösen Mächten gejagt, wie Oscar ihm wieder und wieder zu erklären versuchte? Begab er sich tatsächlich in Lebensgefahr, wenn er sich an die Behörden wandte oder ins Krankenhaus ging? Oder war die Gefahr, die ihm angeblich drohte, nur eine weitere der unzähligen fixen Verschwörungstheorien, die in dem verschrobenen Gehirn dieses seltsamen Menschen steckten, von dem Noah kaum mehr wusste als über sich selbst. Nur dass er einmal Arzt gewesen war, wie er auf Nachfrage zugegeben hatte, weshalb er sich so gut mit Schusswunden, Druckverbänden, Antibiotika und der Dosierung von Schmerzmitteln auskannte.
»Du solltest dir deine nächsten Schritte sehr gut überlegen«, hatte Oscar ihm eröffnet, als das Fieber wieder so weit gesunken war, dass Noah sich zum ersten Mal aufrecht auf die Campingliege setzen konnte, die ihm zwei Wochen als Krankenlager gedient hatte. Er hatte zur Polizei gehen wollen, um zu erfahren, ob sich irgendjemand um ihn sorgte und eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatte, doch Oscar hatte entsetzt die Augen aufgerissen.
»Ich würde das besser bleiben lassen.«
»Weshalb?«
»Dich wollte jemand ermorden, Großer. Mich kannst du als Killer getrost ausschließen, sonst hätte ich dich wohl kaum wieder gesund gepflegt. Also musst du davon ausgehen, dass der Mörder, wer immer das sein mag, in dieser Sekunde noch hinter dir her ist. Und das ist wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. Du hast keine Kopfverletzungen, also ist vermutlich ein seelisches Trauma daran schuld, dass du dein Gedächtnis verloren hast. Dein Gehirn will
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