Nobels Testament
stehen.
»Ebba«, rief sie und drückte entschlossen auf die Klingel. »Ebba, ist dir etwas passiert?«
Die Tür flog weit auf, Annika trat überrascht einen Schritt zurück.
»Huch«, sagte sie und schaute in die Halle.
Sie war leer.
»Was …?«, begann sie und betrat zögernd das Haus. »Ebba? Hallo …«
Sie ging weiter und schaute die Treppe hinauf.
Die Tür krachte hinter ihr ins Schloss, sie machte vor Schreck einen kleinen Sprung und fuhr herum.
Bernhard Thorell stand gegen die Wand gedrückt und lächelte sie an, in der Hand hielt er eine Pistole mit langem Lauf.
»Ach nein, die Doktorandin«, sagte er. »Wie nett. Hereinspaziert.«
Annikas Herz setzte eine Sekunde aus. Ohne das Lächeln zu erwidern, starrte sie den Mann an.
»Was haben Sie hier zu suchen?«, fragte sie.
»Ach«, sagte er und legte den Kopf schräg. »Jetzt erinnere ich mich. Sie sind Reporterin, nicht wahr? Eine, die Fragen stellt und ihre Nase überall hineinsteckt, wo sie nicht hingehört.«
Annika versuchte sich unauffällig umzusehen.
»Wo ist Ebba?«
»Sie hingegen ist dort, wo sie hingehört«, sagte Bernhard Thorell. »Folgen Sie mir in den Salon.«
Er wedelte mit der Pistole in Richtung der Bibliothek, und Annika machte einige zögernde Schritte auf die Flügeltür zu. Sie wollte die Waffe nicht im Rücken haben. Bernhard Thorell versetzte ihr einen harten Stoß, sodass sie gegen den Türrahmen taumelte und sich den Kopf anschlug.
Sie verbiss sich den Schmerz, wollte ihm nicht das Vergnügen bereiten,
Au
zu sagen. Der Mann kam auf sie zu, der nächste Stoß zwang sie in die Bibliothek. Sie stolperte ins Zimmer, strauchelte und landete Hals über Kopf vor dem offenen Kamin.
Sie stemmte sich auf den Ellenbogen, um nachzusehen, worüber sie gestolpert war.
Es war Francesco. Oder besser gesagt, seine sterblichen Überreste. Dem Hund war in den Kopf geschossen worden, augenscheinlich vor nicht allzu langer Zeit. Blut und Hirnmasse troffen aus der Wunde auf den persischen Teppich.
Annika sagte nichts, sondern stand auf.
Ebba saß zusammengekauert auf dem Sofa und war in Tränen aufgelöst. Sie hatte die Knie unters Kinn gezogen und die Arme fest um die Schienbeine geschlungen. Sie sah Annika nicht an, sondern betrachtete unverwandt den Körper des Hundes auf dem Boden.
Annika hielt inne, wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte.
Bernhard Thorell war ein Sadist durch und durch, er würde jede Regung von Trauer und Schmerz genießen. Vermutlich liebte er jede Sekunde, die Ebba weinte.
Die Katze, der Nagel im Auge.
Ihre Knie bebten, oh Gott, erwartete sie das gleiche Schicksal? Würden sie ermordet und verstümmelt werden?
Keine Angst, dachte sie. Keine Trauer, kein Schmerz.
Sie wandte sich zu Bernhard Thorell. Geschäftsführer eines Pharmakonzerns.
»Ich habe die Frage ernst gemeint«, sagte sie. »Was haben Sie hier zu suchen?«
Bernhard Thorell, der an der gegenüberliegenden Wand lehnte, nickte abschätzig.
»Könnten Sie sich neben die Heulsuse setzen? Danke. Tja, ich bin eigentlich nur hier, um etwas abzuholen«, sagte er und deutete mit der Waffe auf das Gemälde mit Beatrice Cenci.
Annika bewegte sich ruhig und vorsichtig durch den Raum, ließ den Mann nicht aus den Augen.
»Das will ich schon lange haben«, sagte er. »Bei der Auktion in Sankt Petersburg vor drei Jahren ist es mir durch die Lappen gegangen. Seither habe ich versucht herauszufinden, wohin es verschwunden ist. Gutes Versteck!«
Er nickte Ebba zu und lächelte.
Annika sank neben Ebba aufs Sofa und strich ihr über die Hände. Sie waren eiskalt. Ebba reagierte nicht, sie starrte unablässig den toten Hund an.
»Was kümmert Sie ein altes Bild?«, fragte Annika.
»Mich interessieren weder Rahmen noch Leinwand«, sagte er. »Es ist Beatrice.«
»Sie war doch nur eine Mörderin«, sagte Annika. »Was ist so spannend daran?«
Ein Zug von Unzufriedenheit legte sich über seine schönen Gesichtszüge.
»Sie wissen nichts über Beatrice«, sagte Bernhard Thorell und zielte mit der Waffe auf sie und Ebba. »Sie wissen, dass sie ihren Vater, Francesco Cenci, umgebracht hat, aber wissen Sie auch, welche Mordwaffe sie benutzte?«
Annika schwieg.
Bernhard ließ die Pistole sinken und klang nun ruhiger.
»Zwei Nägel«, sagte er. »Den einen hat sie durch Papas Auge ins Gehirn geschlagen, den anderen durch den Kehlkopf ins Genick.«
Übelkeit stieg in ihr auf.
»Ich dachte, sie hätte ihm geschmolzenes Blei ins Ohr gegossen und ihm
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