Nobels Testament
garantieren.«
»Sie sind erwachsen, Sie müssen mit gutem Beispiel vorangehen«, erwiderte die Frau und war nun viel kleinlauter.
»Was hätten Sie getan, wenn Kalle Ihr Kind so schwer verletzt hätte, dass eine Tomografie gemacht werden müsste.«
Die Frau schwieg eine ganze Minute.
»Eigentlich das Gleiche wie Sie«, sagte sie schließlich.
»Gut«, sagte Annika. »Danke.«
Sie legte auf und spürte, dass die Wirklichkeit im Begriff war, zu kentern.
Die Katze war in einem stereotaktischen Instrument gefangen, der Nagel stach aus Lars-Henry Svenssons Auge heraus,
haben Sie mein Kind bedroht?
Thomas’ erhobene Hand, bereit zuzuschlagen, Kalles großes Pflaster auf der Stirn, Bosses stummes Flehen, als er im Auto neben ihr saß,
wenn du jetzt gehst, brauchst du nie mehr wiederzukommen.
Sie erhob sich auf wackeligen Beinen, taumelte zur Gästetoilette neben der Eingangstür und übergab sich.
Du entscheidest, wie die Welt zu sein hat, und jeder, der anderer Meinung ist, ist ein Idiot.
Er hat Kinder getötet, Annika.
Keuchend hing sie über der Toilettenschüssel und spürte ihren Puls wie Kopfschmerzen hinter der Stirn.
Ich muss mit jemandem reden, dachte sie. Ich kann hier nicht rumsitzen.
Langsam ging sie hinauf zu den Kindern, öffnete die Schlafzimmertür, so leise sie konnte. Sie betrat das Zimmer, lauschte auf den ruhigen Atem der beiden. Sie schliefen tief und fest.
Er kommt zurück, dachte sie. Papa kommt zurück.
Sie schaute durch einen Spalt zwischen den Gardinen hinaus. In Ebbas Haus brannte Licht. Sie war zurück von ihrem Besuch bei ihrer Cousine in Dalarna.
Die Wände kamen immer näher. Was, wenn er nicht wiederkäme?
Sollte sie einfach dasitzen und warten?
Sie ging hinaus auf den Flur und schloss die Tür hinter sich.
Betrat Ellens Zimmer und verließ es wieder, betrat Kalles Zimmer und verließ es wieder.
Ob sie die beiden eine Weile allein lassen und zu Ebba hinübergehen konnte?
Aber wenn Thomas anrief?
Sie konnte das Haus nicht verlassen, falls er sich meldete.
Allerdings war es möglich, das Telefon umzustellen, dann würden auch die Kinder nicht aufwachen, wenn es klingelte.
Sie ging hinunter ins Erdgeschoss und schaute aus dem großen Fenster neben der Haustür.
Bewegte sich da nicht etwas?
Vielleicht war es Thomas, der nach Hause kam.
Ich kann hier nicht einfach rumsitzen, dachte sie.
Sie stellte die Rufumleitung auf ihr Handy ein, überprüfte, ob der Akku noch genug Strom hatte, und ging zur Tür.
Draußen war es dunkel, trotz des Frühsommerabends. Die Wolken lagen wie nasser Beton über dem Himmel.
Bei schlechtem Wetter sind solche Vororte wirklich trostlos, dachte sie. Alle Farben verschwinden, und es bleibt nichts als eine graue Masse. In der Stadt ist kein Raum für Dein und Mein, Straßen und Plätze sind öffentliche Orte, wo sich niemand an der Gegenwart anderer stößt. Es ist so viel enger hier, obwohl viel mehr Platz ist.
Warum denke ich jetzt darüber nach?, schoss es ihr durch den Kopf. Mein Nachbarschaftsverhältnis ist doch das Letzte, um das ich mich gerade sorgen sollte.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, tauchte Wilhelm Hopkins vor ihr auf der Straße auf. Er zeigte auf einen roten Sportwagen, der vor ihrer Einfahrt geparkt war.
»Ich habe jetzt wirklich genug«, sagte er laut. »Das war das letzte Mal. Ich rufe die Polizei.«
Annika würdigte ihn keines Blickes.
Ebbas Volvo stand auf dem Hof vor ihrem Haus. Der Springbrunnen war abgestellt und der Hundezwinger verlassen.
Annika stieg die Vortreppe hinauf und klingelte. Drinnen hörte sie das Echo der Glocke. Francesco blieb still, Schritte waren keine zu hören. Die Glocke verklang, sie machte ein paar Schritte rückwärts und sah sich um. Das Blech des Autos knackte, als kühlte es nach einer langen Fahrt langsam aus. Sowohl im Erdgeschoss als auch im ersten Stock brannte Licht. Sie ging zurück zur Haustür und klingelte erneut.
Keine Reaktion.
Sie schaute hinaus auf die Straße.
Von Wilhelm Hopkins war nichts mehr zu sehen.
Zögernd lehnte sie sich gegen die Tür und klopfte leicht gegen das bleigefasste Glas.
»Ebba …«, rief sie. »Ebba, bist du da?«
Vielleicht wollte sie ihre Ruhe haben. Vielleicht hatte sie eine anstrengende Fahrt hinter sich und lag oben in der Badewanne. Vielleicht wollte sie nicht das ganze Haus nass tropfen, um die Tür aufzumachen …
Drinnen ertönte ein Geräusch. Ein Schlag, als wäre etwas zu Boden gefallen.
Annika blieb auf der Treppe
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