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Noch einmal leben

Noch einmal leben

Titel: Noch einmal leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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gar nicht bemühen, an irgendeine Stelle mit rationalen Urteilen heranzugehen. In der Welt, die Risa kannte, war Mord eine Seltenheit. Da jeder mit der Aufzeichnung seines Bewußtseins im Scheffing-Institut auf dem laufenden blieb und daher jederzeit von einer Existenz in die nächste überwechseln konnte, war es sinnlos, mit einem solchen Verbrechen die eigene Löschung in der Seelenbank zu riskieren. Wenn man vorsätzlich jemanden umbrachte, wurden die eigenen Aufzeichnungen ausgemerzt, und man war für immer von der Teilnahme an der Wiedergeburt ausgeschlossen. Wer wollte so eine schreckliche Strafe schon riskieren? Warum sollte man das eigene ewige Leben aufs Spiel setzen, bloß um das ewige Leben eines anderen für einen begrenzten Zeitraum aussetzen zu lassen?
    Und trotzdem war Tandy nicht davon abzubringen, daß man sie ermordet hatte. Sie hegte nicht den geringsten Zweifel daran und weigerte sich sogar, die Tatsache überhaupt in Erwägung zu ziehen, daß ihre eigene Unachtsamkeit zu ihrem frühen Tod im Schnee von St. Moritz geführt haben sollte. Risa rief die zentrale Auskunft an und erbat Informationen über den gegenwärtigen Aufenthaltsort von Stig Hollenbeck. Zu ihrer Überraschung und Erleichterung stellte sich heraus, daß Stig Hollenbeck im Moment auf dem Sitz seiner Familie in der Nähe von Stockholm weilte. Am nächsten Morgen, als es in Schweden gerade Nacht war, rief sie ihn an.
    Sein ruhiges, sympathisches Gesicht lächelte Risa vom Bildschirm an. Die Augen waren freundlich, drückten aber auch Verwunderung aus. Er ähnelte Tandys Bild von ihm sehr, obwohl er in der Realität etwas jünger und noch schmaler war.
    „Ja bitte?“
    „Ich bin Risa Kaufmann. Ich möchte mit Ihnen gerne über Tandy Cushing reden, wenn es recht ist.“
    Er schlug für einen Moment die Augen nieder. „Tandy. Ja. Eine große Tragödie. Waren Sie eine Freundin von ihr?“
    „Ich habe ihr Bewußtsein übertragen bekommen.“
    Leben kam in Hollenbecks Äußeres: plötzlich mußte er heftig schlucken, die Augen wurden groß, der Kopf fuhr rasch und ungewollt etliche Zentimeter nach links. Risa ließ ihn nicht aus den Augen und fragte sich, ob dies die Reaktion eines Schuldigen war, den man ertappt hatte, oder ob er vielleicht nur von der Nachricht überrascht worden war, daß Tandys Bewußtsein wieder in der Welt war und ihn durch Risas Augen ansah.
    Nach einer ganzen Weile sagte er: „Ich wußte nicht, daß sie bereits einen Wirt gefunden hat.“
    „Das ging sehr rasch. Vergangene Woche erfolgte die Transplantation. Sie schlug vor, ich sollte mich mit Ihnen in Verbindung setzen. Es gibt da nämlich ein paar Fragen, die ich Ihnen gerne stellen möchte.“
    „Sehr gem. Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann …“
    „Aber nicht am Telefon. Kann ich Sie morgen in Stockholm aufsuchen?“
    „Ganz wie Sie wünschen. Es wird mir ein großes Vergnügen sein, Tandys – äh – neue Freundin kennenzulernen. Kommen Sie aus Amerika?“
    „Ja, von New York.“ Während sie sprach, verglich sie die Abflugzeiten mit ihrem Terminkalender und stellte fest, daß ein Flug morgen früh um neun Uhr ausgezeichnet paßte. „Wir könnten zusammen zu Mittag essen.“
    Er wollte sie am Flughafen abholen. Als sie die Zollkontrolle passiert hatte, war Stig Hollenbeck auch da. Er sah noch blasser und zerbrechlicher aus, als Risa erwartet hatte. Sie begrüßten sich mit der Herzlichkeit, die sich für zwei Fremde bei der ersten Begegnung schickte. Als er ihre Hand hielt, starrte er in ihre Augen. Risa kam es so vor, als wollte er mit seinen wasserblauen Augen versuchen, bis zu Tandy vorzustoßen, die in ihrem Kopf steckte. Ein Muskel zuckte in seiner Wange. Risa bezweifelte, daß dieser Mann einen Mord begangen haben könnte.
    - Er hat sich verändert, bemerkte Tandy. Er wirkt älter und stiller, noch scheuer als früher.
    „Ich habe einen Tisch für uns reservieren lassen“, erklärte Stig Hollenbeck. „Mein Gleiter wartet bereits.“
    Nach wenigen Minuten hatten sie ein mehrere hundert Jahre altes, prächtiges Gebäude erreicht, das sich am Rand eines wunderbaren Parks in der City von Stockholm befand. Stig hatte es so eingerichtet, daß sie ihre Mahlzeit in einem ungestörten Zimmer serviert bekamen. Auf den ersten Blick mochte das Ganze wie der Auftakt zu einer Bettgeschichte aussehen. Aber Risa spürte, daß der Schwede kein körperliches Verlangen nach ihr hatte. Sie konnte bei Menschen ziemlich sexuelle Absichten ausmachen,

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