Noch einmal leben
Tandys Lebensflucht. Tandy mißbilligte Risas Tatendrang. Sie hatten einander viel zu bieten, waren in diesem Sinn etwa gleichwertige Kräfte.
Während der ersten Tage ihres Zusammenlebens verbrachten sie viele Stunden damit, gegenseitig in ihren Erinnerungen herumzusuchen. Risa zog sich ganz in ihr Apartment zurück. Einem Außenstehenden wäre ihr Verhalten als Meditation vorgekommen. Aber in Wahrheit war es ein aufregendes, lebendiges und schier endloses Zwiegespräch der allerintimsten Art. Übereilig stürzte sie sich in Tandys Erlebnisschatz, in ihre Liebesaffären, ihre Reisen, ihre Parties. Sie fühlte sich, als hätte sie in einem Augenblick acht zusätzliche Jugendjahre dazugewonnen. Tandy hatte sich mit vierundzwanzig aufzeichnen lassen. Sie hatte das gleiche getan, womit sich Risa in den sechzehn Jahren ihres Lebens beschäftigt hatte. Aber sie war über die ersten tastenden Versuche hinausgelangt und hatte eine beachtliche sexuelle Karriere hinter sich. Risa hatte natürlich auch schon ein paar Bettgeschichten erlebt: impulsive, fragmentarische, zögernde und allzu flüchtige Erlebnisse eines Mädchens, das noch an der Schwelle zur Frau stand. Tandy hatte Liebe erfahren; zumindest das, was sie selbst unter Liebe verstand. Und vor Risa breitete sich ein Panorama von Gefühlsstürmen und Leidenschaften vom Entfachen bis zum Erlöschen einer Liebe aus.
Risa kannte jetzt das prickelnde Gefühl, nackt und mit einem Mann im antarktischen Schnee zu liegen. Sie schmeckte fremdartige Cocktails in einem Hotel an den Hängen des Mount Everest. Sie erfuhr den Orgasmus im freien Fall. Sie wußte nun, was es hieß, sich mit einem Liebhaber zu streiten, ihm mit den Fingernägeln das Gesicht zu zerfetzen und ihm danach die salzigen Blutstropfen wegzuküssen.
Risa fühlte, daß sie nicht sehr lange brauchen würde, um Tandys Erlebnisvorrat auszuschöpfen. Gewiß würde es immer interessante Schlüsselerlebnisse bei Tandy geben, auf die man zurückgreifen könnte, neben der immer nützlichen Gegenwart eines zweiten Bewußtseins in ihrem Kopf, aber Risa wußte auch, daß ihre momentane Hochstimmung in ein oder zwei Jahren abgeflaut sein würde.
Ihre Beziehung würde zu einem gemütlichen Beisammensein degenerieren, zu einer Ehe, deren Leidenschaft sich verzehrt hatte. Tandy besaß einfach nicht die komplexe Persönlichkeit, die eine unbegrenzte Nutzung ihrer Erfahrung erlaubte, so bunt ihre zahlreichen Erlebnisse auch gewesen sein mochten. Wenn Risa Tandys Sterbealter erreicht haben würde, wäre sie sicher weit über den Punkt hinaus, an dem ihre geistige Partnerin in ihren letzten Monaten gestanden hatte.
Dann wäre es an der Zeit, ihrem Kopf ein neues Fremdbewußtsein hinzuzufügen. Eine ältere Frau hielt Risa dann für angebracht. Von Tandy hatte sie die Wollust und eine körperliche Sinnlichkeit erfahren, die ihr eigener schmächtiger Körper ihr nie geben konnte. Vom nächsten Fremdbewußtsein erwartete Risa einen Fortgeschrittenenkurs in Habsucht und Raffinesse. Es könnte nur nützlich sein, die Vorteile des Alters als Rückhalt zu besitzen, wenn sie die Welt der Hochfinanz mit all ihren Konflikten und Entscheidungen betrat.
Aber das war vorerst Zukunftsmusik. Im Moment hatte Risa genau das, was sie wollte.
„Bist du zufrieden?“ fragte sie ihr Vater.
Die Frühlingssonne strömte in Risas Apartment. Sie trug ein luftiges Gewand, das so aussah, als sei es aus Spinnweben gemacht. „Ja, ich bin sehr zufrieden. Es ist genau so, wie ich es mir erträumt habe.“
„Die Veränderung in dir ist nicht zu übersehen.“
„Eine Veränderung zum Besseren hin?“
„Das will ich meinen“, sagte Kaufmann.
„Warum warst du dann gegen die Transplantation, Mark? Warum hast du nicht schon beim ersten Mal die Einwilligung gegeben?“
Er machte ein verlegenes Gesicht. Einen solchen Ausdruck hatte sie noch nie zuvor an ihm gesehen. „Manchmal kalkuliere ich eben falsch, Risa. Damals kam es mir so vor, als seist du zu so etwas noch nicht reif genug. Aber das war ein Irrtum, und den gebe ich zu. Du und Tandy vertragt euch gut, was?“
„Außerordentlich gut.“
„Wie ist sie denn?“
„Sie ist mir eigentlich ziemlich ähnlich, nur eben acht Jahre älter. Und sie nimmt alles viel gelassener als ich – bis auf eine Ausnahme.“
„Und die wäre?“
„Die Sache mit ihrem Tod. Da wird Tandy ganz verrückt. Sie glaubt, sie sei ermordet worden.“
„Sie kam doch im letzten Sommer bei einem Skiunfall ums Leben,
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