Noch einmal leben
tief innen heraus durchströmte. Sie hörte auf, Tandy als kritische Beobachterin zu sehen. Statt dessen begriff sie ihren Gast als Gefährtin, als kooperative Unterstützung. Und das machte das Erlebnis für sie noch interessanter. Risa ließ ihr Becken kreisen; sie küßte Jacques; sie umschlang ihn in einer Mischung aus spielerischer Mädchenhaftigkeit und reifer Weiblichkeit, die sie als wirksamste Angriffswaffe aus ihrem Arsenal weiblicher Verlockungen kannte. Tandy leitete sie. Ohne ihre Hilfe wäre es Risa sicher nicht so gut gelungen, Jacques’ erfahrenem Ansturm ebenbürtig zu begegnen.
Als es vorüber war und Jacques seine dunkle Bankierstracht wieder angezogen hatte und gegangen war, lag Risa noch immer behaglich ausgestreckt auf dem zerwühlten Bett. Sie rekapitulierte mit Tandy die letzte halbe Stunde und genoß die liebenswürdigen Anmerkungen darüber, wie sie im Bett auf den Cousin eingegangen war. Es war wunderbar, mit jemandem so offen reden zu können und dabei zu wissen, daß jeder Gedanke vollkommen verstanden wurde.
„Das tut so gut, dich bei mir zu haben“, sagte Risa. „Und zu wissen, daß man nie mehr allein ist. Ich wünschte, Tandy, ich könnte in mich hineingreifen und dich umarmen.“
- Warum tust du es dann nicht?
Risa lachte. Sie umarmte sich selbst und drückte fest zu. Sie verdrehte ihren Körper auf dem Bett so, als würde sie von jemandem umschlossen. Dann entspannte sie sich wieder und strampelte spielerisch mit den Beinen in der Luft.
- Wir sollten nicht so herumtrödeln, Risa.
„Und wo sollen wir hin?“
- Nach London, Martin St. John finden.
„Warum hast du es so eilig?“, fragte Risa.
Aber Tandy ließ sich nicht beschwichtigen. Und so reservierte Risa einen Platz für den nächsten Rüg nach London, der um siebzehn Uhr startete. Im letzten Moment erreichte sie den Flughafen. In der Luft studierte Risa das Photo von Martin St. John, das sie noch vor dem Abflug erhalten hatte. Obwohl es nur zweidimensional war, konnte man sich ihn gut einprägen: ein Mann Anfang Dreißig mit blondem Haar, blassen Augen und einem weichen, ausdruckslosen Gesicht. Er hatte ein fliehendes Kinn, volle sinnliche Lippen und schlaffe Wangen. Tandy war schockiert. Sie schickte zum Vergleich das Bild des verstorbenen Claude Villefranche in Risas Bewußtsein: der hatte ein kantiges Gesicht, harte Augen, ein festes Kinn und dünne, scharf gebogene Lippen besessen. Kurz, er war das genaue Gegenteil von Martin St. John. Konnte Claude sich in einem solchen schlaffen, verweichlichten Körper überhaupt wohlfühlen?
Gleich nach ihrer Landung in London rief Risa Martin St. John an. Zu ihrem Glück war er gerade zu Hause. Als sie jedoch auf den zehn mal zehn Zentimeter großen Bildschirm blickte, war sie erstaunt über die geringe Ähnlichkeit dieses Mannes mit seinem Photo. Der Martin St. John auf dem Bildschirm wirkte wesentlich abgehärteter, straffer und schlanker. Er muß wohl in der letzten Zeit krank gewesen sein und dabei viel Gewicht verloren haben, dachte sich Risa.
„Ja bitte,“ sagte er.
„Ich bin Risa Kaufmann. Sie kennen mich nicht, aber wir haben einiges gemeinsam.“
„Und was sollte das sein?“
„Sie beherbergen das Bewußtsein von Claude Villefranche“, sagte sie. „Und ich trage das von Tandy Cushing.“
Martin St. Johns Lippen zuckten, aber er antwortete nicht.
Risa fuhr fort: „Ich weiß, daß es sich nicht gehört, von Fremdbewußtsein zu Fremdbewußtsein zu sprechen. Aber Tandy ist es sehr wichtig, einige Informationen von Claude zu bekommen. Wenn wir uns treffen und durch uns den Kontakt zwischen den beiden vermitteln können, würde das Tandy und mich sehr glücklich machen.“
„Ich weiß nicht, ob wir das tun sollten.“
„Bitte“, sagte Risa mit zuckersüßer Stimme. „Ich bin durch halb Europa gereist, um Sie zu finden. Bitte sagen Sie jetzt nicht nein. Schenken Sie mir nur eine halbe Stunde Ihrer Zeit …“
„Also gut.“
„Heute abend noch?“
„Wenn Ihnen so viel daran liegt.“
„Das ist sehr nett von Ihnen.“
Er nannte ihr die Adresse eines Cafés in der Finchley Road. Risa erwischte ein Taxi und kam rechtzeitig dort an. Das Café bestand aus einem dunklen, länglichen Raum und war in einem allzu deutlich erkennbar nachgemachten Stil des zwanzigsten Jahrhunderts eingerichtet, der sich hauptsächlich in Unmengen von Plastikblumen und anderem Unsinn zum Ausdruck brachte. St. John saß allein an einem Tisch unweit der
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