Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
sie verdrängt hatte, wieder präsent. Handgeschriebene Briefe lagen vor ihr, Schreibfedern und Ti n tenfässchen. Im Geiste sah sie Quanah am Tisch sitzen und schreiben. Öllampen erhellten das Zimmer, das Kratzen der Feder auf Papier war das einzige Geräusch, das die Stille störte. Kupfernes Licht schimmerte auf seinen langen Zöpfen, und durch die offen stehende Tür hörte man die Stimmen seiner Frauen und Kinder.
Sara rieb sich die Augen. Frönte sie einem Tagtraum? Wie unprofess i onell.
Permanent beschäftigte sie sich im Rahmen ihrer Arbeit mit Artefa k ten der Vergangenheit. Voller Leidenschaft und Faszination, sicher, aber ohne übertriebene Sentimentalität. Diesmal hingegen war es anders. Sie war anders. In ihr erwachte der Wunsch oder vielmehr d as Bedürfnis , die unter Glas ruhenden Dinge zu berühren , zu streicheln. Um dem Me n schen, de m sie gehört hatte n , nahe zu sein.
Ganz links lag der Brief, in dem Quanah die Texaner bat, ihm die G e beine seiner Mutter zu schicken. Er hatte sich danach gesehnt, sie nach alter Tradition bestatten, an ihrem Grabhügel sitzen und trauern zu dü r fen.
Sara ertrug es nicht, diese Zeilen zu lesen. Unmöglich. In ihren Augen brannten Tränen, ihr Herz wurde felsenschwer.
Allmächtiger. Was war ihr nur für eine sentimentale Laus über die L e ber gelaufen? Begann sie allen Ernstes zu weinen? Wegen eines alten Briefes und ein paar Tintenfässchen, die einem seit L angem verstorb e nen Mann gehörten? Himmeldonnerwetter! Sie musste dringend wieder zur Vernunft kommen.
Sie nahm die Informationstafel daneben in Augenschein. Ablenkung, sie brauchte Ablenkung. Verstohlen wischte sie sich mit dem Mantelä r mel über die Augen.
Dummerweise machte das Studium der Tafel es nicht besser, denn kleine Anekdoten aus Quanahs Leben waren darauf verewigt.
Kurz , nachdem der Häuptling samt Familie sein Comanche White House bezogen hatte, stellte ein Vertreter der amerikanischen Regierung ein paar Dinge klar: „ Polygamie ist Ihnen fortan untersagt. Nur eine Frau ist Ihnen gestattet. “
„ Gut “ , war Quanahs Antwort . „ Ich wähle Wes Kea. Aber sag du me i nen anderen Frauen, dass ich fortan nicht mehr ihr Ehemann bin. “
Keiner der Anzugträger hatte den Zorn der Eheweiber auf sich ziehen wollen. Infolgedessen blieben sie Quanah erhalten.
Sara kicherte. D as sah diesem schelmischen Kerl ähnlich. Obwohl sie sich erst seit Kurzem mit Quanah und seinem Umfeld beschäftigte, überwältigte das Gefühl sie , genau zu wissen, was für ein Mensch er gewesen war. S ie neigte eindeutig zu Träumereien und Sent i mentalität. Zumindest in letzter Zeit. Womöglich litt sie an Hormo n schwankungen.
Oberhalb der Vitrine hingen zwei Bilder an der Wand. Cynthia Ann Parker, die ihre Tochter Topsannah im Arm hielt und traurig in die K a mera blickte. Alter und Verlust hatten ihr Gesicht gezeichnet, doch d a runter erkannte man noch immer die stolze, schöne Frau, die sie einmal gewesen war. Jene weiße Frau, die die Liebe eines Krieg er häuptlings gewonnen hatte.
Neben dem Portrait thronte Quanah erhobenen Hauptes auf einem schwarzen Pferd. Das einzige ihrer Kinder, das überlebt hatte, war dazu bestimmt, der letzte Freiheitskämpfer seines Volkes zu werden. Zum ersten Mal seit Jahren dachte Sara nicht daran, ihre Eindrücke mithilfe der Kamera zu verewigen. Wa s sie fühlte, hätte kein Bild der Welt ei n fangen können. Kein Wort, keine Geste. Mit jedem Atemzug wuchs ihre Benommenheit. Warum sie sich trotzdem umwandte, wusste sie nicht. Sie tat es automatisch, ohne sich bewusst dafür zu entscheiden, und als sie den Mann erblickte, der hinter ihr auf einem der wackligen Stühle saß, setzte ihr Herz für zwei Schläge aus.
Es war nicht einmal sein unergründlicher Blick, der direkt auf sie g e richtet war. Nicht sein Gesicht oder die Art, wie sein Körper sich a n spannte. Es war etwas, das sich ihrem Verstand entzog. Sie e r starrte.
Der Mann stand auf und kam zu ihr herüber. Sein blauschwarzes Haar war locker im Nacken zusammengebunden und reichte vermutlich bis knapp über die Schultern. Lose Strähnen bewegten sich im kalten Win d zug, der durch die undichten Fenster wehte. Sara blickte in das samtige Braun seiner Augen. Er war nur ein bisschen g rößer als sie, doch als er vor ihr stand, fühlte sie sich klein.
Um nicht in sein Gesicht blicken zu müssen, starrte sie auf seine Kle i dung. Diese bestand aus einer dunkelbraunen Lederjacke in beklagen s wertem
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