Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
dass er ausgerechnet den Kugeln der Polizei zum Opfer gefallen war.
Falls er das war, dachte Bassar hoffnungsvoll. Vielleicht hatten die Schüsse ihn nur verletzt. Aber selbst wenn die Kugeln daneben gegangen waren - der eisige Fluss würde jedem ein rasches Ende bescheren.
»Inspektor Bassar«, meldete sich Betty Mebb hinter ihm. Beamte streiften ihn und Papier raschelte. Akte für Akte wurden die Schränke durchforstet. Dieses Büro war genau die Art von Entdeckung, die Bassar sich nach der Auflösung von Eck Jargo erhofft hatte. Allerdings konnte er sich jetzt nicht darüber freuen.
»Sehen Sie mal, was ich gefunden habe, Inspektor.« Mebb kam neben ihn und schob ihm einen Papierbogen zu. Bassar überflog die ersten Zeilen.
»Ganz recht«, sagte Mebb eifrig. »Das ist der Bericht, der in dem Bericht erwähnt wurde, den der Junge hat: Hier steht, Elias Spiegelgold hat die Detektei angeheuert, um Nachforschungen anzustellen, warum sein Bruder, der Buchhändler Alois Spiegelgold, seinen Verstand verloren hat. Interessanterweise hat Alois Spiegelgold dem Bericht zufolge zuerst den Verstand verloren und dann das Feuer gelegt. Das heißt, es gab einen anderen, früheren Auslöser für den Verlust seiner
Geisteskraft. Das bestätigt im Übrigen ja nur, was wir die ganze Zeit über angenommen haben.«
»Werden Beweise dafür genannt?«, fragte Bassar und blätterte den Bericht durch.
»Keine konkreten. Aber es wird erwähnt, dass Alois Spiegelgold sich wenige Tage zuvor strafbar gemacht haben soll, indem er ein wertvolles Artefakt gestohlen hat. Nämlich ein Buch. Das lässt darauf schließen, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits verrückt war.«
»Und jenes Buch gehörte Morbus.«
Mebb nickte. »Das haben Sie aus dem Bericht, den der Junge mitgenommen hat.«
Bassar nahm die ungerauchte Zigarette aus dem Mund und strich sich fieberhaft mit der Hand über die Wangen. Ein Buch, das gestohlen und in aller Heimlichkeit zurückgeholt wurde, und ein plötzlicher Fall von Wahnsinn… Auf irgendeine verzwickte Weise hatte das alles mit der Geschichte über die Erinnerungsbücher zu tun, die der Junge und Apolonia Spiegelgold erzählt hatten. Hatten die beiden nicht gesagt, man verlöre seinen Verstand, wenn man ein solches Buch las, weil man es liebte wie einen echten Menschen… das Ganze war doch vollkommen abwegig.
»Wir müssen unbedingt etwas erledigen«, überlegte er leise.
»Und das wäre?« Mebb räusperte sich, und ihre Stimme nahm wieder die ausdruckslose Gelassenheit an, die ihr zu eigen war. »Egal was es ist, Inspektor. Sie sollen wissen, dass ich zu allem bereit bin.«
Bassar sah der Kommissarin in die von zarten Fältchen umgebenen Augen. Eine Weile erwiderte sie seinen Blick vielsagend, dann schienen ihre Worte sie zu beunruhigen und sie sah zur Seite. Bassar wandte sich rasch wieder dem Bericht zu und rollte ihn in den Händen zusammen. »Gut, danke, Kommissar
Mebb. Mir ist Ihre außerordentliche Einsatzbereitschaft natürlich bekannt. Seit Sie bei uns arbeiten, und das ist eine lange Zeit, waren Sie ja immer sehr gewissenhaft.« Bassar hatte das unbestimmte Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben, und spähte zu Mebb herüber, die ihn zu seinem Entsetzen prüfend ansah. Nervös steckte er sich wieder die Zigarette in den Mund und vergrub die Hände in den Manteltaschen. Dann nahm er die rechte Hand doch wieder heraus, um nach dem Bericht zu greifen. »Wir müssen die kleine Spiegelgold endlich befragen.«
»Ich komme mit«, sagte Mebb und strich sich ihren perfekt sitzenden Mantel glatt.
»Perfekt. Ich meine, das finde ich schön. - Sie verstehen schon.« Eilig beschloss Bassar, seine Zigarette anzuzünden, bevor ihm noch mehr wirres Geplapper über die Lippen kam, und mit einem erleichterten Ausatmen versteckte er seine glühenden Wangen hinter einem Schleier aus Qualm.
Apolonia schlief. Seit ihrem Schwächeanfall war sie noch nicht wieder ganz zu Kräften gekommen - schließlich hatte sie nichts gegessen, außer der Hochzeitstorte natürlich. Von der waren nur noch ein paar Kuchenbodenbröckchen und Sahnekleckse übrig.
Nachdenklich sammelte Vampa die restlichen Krümel mit dem Zeigefinger auf und steckte sie sich zwischen die Lippen. Der Junge Gabriel lag noch immer auf seinem Schoß und Vampas Hand hatte sich um den Einband geschlossen.
Von allen Blutbüchern, die er im Verlauf der Jahre gefunden und gelesen hatte, war ihm Der Junge Gabriel am kostbarsten. Vielleicht weil darin pures,
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