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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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wenigstens trocken.
    Der alte Mann hatte seine Decke ausgebreitet und rückte sein Bündel sorgfältig hin und her, um es als Kissen zu benutzen. Als er zufrieden war, zog er sich die Wollmütze tief in die Stirn, vergrub das Kinn im Schaltuch und mummelte sich in die zerlumpte Decke ein. Sein von wohliger Müdigkeit getrübter Blick schweifte über den Fluss… und blieb an einem Schatten im Wasser hängen, der immer näher trieb. Die dunklen Wellen schwappten über etwas hinweg, das wie Schultern und ein Rücken aussah.

    »Aber das ist ja …« Der alte Mann schob die Mütze zurück, rappelte sich aus seiner Decke auf und lief ans Ufer. Bis zu den Oberschenkeln musste er ins eiskalte Flusswasser steigen, um den reglosen Menschen zu fassen zu bekommen. Er zog ihn unter den Schultern hoch und hielt ihn ächzend vor sich, wie man ein junges Kätzchen hochhält. Wasser tropfte aus den Haaren und Kleidern des Jungen. Der alte Mann machte große Augen, als er ihn erkannte.
    Er zog den Jungen ans Ufer und ließ sich neben ihm in den Schnee sinken. Behutsam öffnete er das Jackett des Jungen und erstarrte. Rote Rinnsale waren über die Brust gelaufen. Als der Alte seine Finger wieder hervorzog, waren sie blutig. Der Junge hatte eine Schusswunde in der Schulter.
    Er legte ein Ohr an seine Brust und horchte. »Tot bist du noch nicht, Jorel. Halte durch.«
    Der Alte stand auf und eilte zu seinem Schlafplatz zurück. Er schulterte sein Bündel, packte die Decke aber nicht ein, sondern kehrte mit ihr zu dem Jungen zurück und breitete sie neben ihm aus. Dann zog er ihm die nassen Kleider aus, die in der eisigen Luft zu dampfen begannen, und rollte ihn in die Decke, bis er darin steckte wie eine bleiche Motte in ihrem Kokon. Die nassen Kleider verstaute der Alte in seinem Bündel. Dass dabei ein Papier aus der Hose fiel, bemerkte er nicht. Dann hievte er den Jungen über die Schulter und stemmte sich hoch. Das zusätzliche Gewicht des Jungen schien ihn kein bisschen Kraft zu kosten.
    »Jetzt gibt es wohl nur noch eine Möglichkeit«, murmelte der Alte, sah sich kurz um und brach auf. Mit wenigen Schritten hatte er das steile Steinufer hinter sich gebracht und lief im Eilschritt die Straße entlang. Die Sammlung der unzähligen Knöpfe verschiedenster Größe und Beschaffenheit begleitete seine Bewegungen mit einem zarten Klirren und Klappern. Leichtfüßig wie ein Wiesel bog der Alte in eine Seitengasse ab.
    Als die Polizisten mit ihren Taschenlampen und Spürhunden den Fluss hinaufgehetzt kamen, war der alte Mann mit Tigwid bereits verschwunden. Der Bericht versank in den schwarzen, schweigenden Fluten.

Nachricht von Knebel

    D as ist unfassbar! Unverantwortlich! Wenn der junge tot ist - wenn er tot ist… Seit wann schießen Polizisten auf Jugendliche, Herrgott noch mal!« Bassar fuhr sich mit den Händen über die Stirn, ohne sein unruhiges Auf-und-ab-Gehen zu unterbrechen. Dabei rempelte er gegen drei geschäftige Polizisten und stieß einen Stuhl zur Seite, der ihm in die Quere kam.
    Betty Mebb blickte sorgenvoll von einem Aktenstapel auf. »Vor allem hat er noch den Bericht bei sich, von dem Sie gesprochen haben. - Ah, danke.« Die Kommissarin nahm einen weiteren Aktenstoß entgegen, den eine Kollegin ihr reichte.
    »Ja«, murmelte Bassar, »ja, er hat den Bericht, das auch noch. So darf es nicht weitergehen. Die Polizei sollte den Bürgern ein Helfer sein, keine - keine Horde Schießwütiger, verdammt!« Er schlug sich mit der Faust in die Handfläche, dann lief er unruhig ans Fenster und spähte hinaus. Von den Männern, die auf die Suche nach dem Jungen gegangen waren, fehlte jede Spur. Bassar trommelte nervös mit den Fingern auf das Fensterbrett, steckte sich eine Zigarette in den Mund und balancierte sie zwischen den Lippen, ohne sie anzuzünden. Das Schicksal des Jungen machte ihm zu schaffen - es ergriff ihn sogar noch mehr als die Kinderleichen, auf
die er in Eck Jargo gestoßen war. Ihr Fall war eine Tragödie gewesen, die die Polizei vielleicht hätte verhindern können, bei dem Jungen jedoch trug die Polizei direkte Schuld. Was Bassar am meisten Gewissensbisse bereitete, war die Tatsache, dass weder er noch seine Kollegen ihm Glauben geschenkt hatten, als der Junge von Motten und magischen Blutbüchern erzählt hatte. Und nun waren sie drauf und dran, Beweise für dieses irrsinnige Märchen zu finden.
    Wahrscheinlich hatte der Junge genau das vorgehabt und war deshalb hier eingebrochen. Umso quälender war,

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