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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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reines Glück gefangen stand. Vielleicht weil er Gabriel im echten Leben kennengelernt hatte. Weil er sich besonders gut mit ihm identifizieren konnte …

    Vampa senkte den Kopf, sodass er auf gleicher Höhe mit Apolonias Gesicht war. Sie schlief reglos und tief wie die verwunschenen Prinzessinnen aus den Märchen, die Vampa früher gelesen und die ihn vollkommen kaltgelassen hatten. Ihre dunklen Wimpern schimmerten rötlich im Licht der Petroleumlampe. Ein Kuchenkrümel klebte ihr an der Oberlippe.
    Eigentlich hatte sie ihm den Rücken gekehrt, als sie eingeschlafen war. Nach einer Dreiviertelstunde aber, als Vampa ganz sicher gewesen war, dass sie schlief, hatte er vorsichtig ihren Kopf angehoben und sie zu sich umgedreht. Jetzt beobachtete er ihr Gesicht mit angehaltenem Atem. Sie grunzte leise im Schlaf.
    Vampa verharrte eine Weile fasziniert mit schief gelegtem Kopf. Es war so seltsam... was in ihm war, war seltsam. Seit der Begegnung mit Tigwid war da diese merkwürdige, heiße Übelkeit, und in Apolonias Nähe drückte die Übelkeit ihm gegen die Innenwände seines Kopfes, dass ihm fast schwindelig wurde. Es konnte doch keine Krankheit sein, schließlich war die Übelkeit nicht verschwunden, als sein Haar zu bekannter Stunde nachgewachsen war.
    Vampa hörte auf, darüber nachzudenken, denn Apolonias Anblick nahm ihn ganz ein. Was er sonst immer so belanglos an menschlichen Gesichtern gefunden hatte, wirkte bei ihr hypnotisierend: die weichen, glatten Härchen der Brauen, die doppelte Falte ihrer Lider, die bläulichen Schatten an ihrer Nasenwurzel, die zarte Vertiefung zwischen Nase und Oberlippe, die aussah, als hätte ein fallender Tropfen sie in die Haut gedrückt… das alles hatte eine äußerst ungewöhnliche Wirkung auf ihn, die er aber genoss; er genoss sie, bis sein Nacken starr wurde und zu schmerzen begann. Mit einem Blinzeln erhob er sich, strich gedankenverloren über den Buchdeckel und über seine Haare. Als er sein Taschenmesser zog, um die langen Locken abzuschneiden, zögerte er, in den Spiegel zu
blicken. Das Gesicht, das ihn dort erwartete, war ihm zuwider. Schließlich klappte er Der Junge Gabriel auf und fuhr mit dem Finger die Konturen der feinen roten Zeichnung nach. Die runde Nase, die sanften Lippen, die wachen Augen unter den dunklen Brauen… Schon wieder diese Übelkeit! Und doch war sie ein wenig anders als die schwere Benommenheit, die ihn bei Apolonia überfiel. Ohne den Blick vom Bild zu wenden, nahm Vampa seine Haare in die Hand und schnitt sie kurz. Dann sammelte er die abgeschnittenen Locken auf und hielt sie in das Flämmchen der Petroleumlampe. Das Feuer zischte und der vertraute beißende Geruch breitete sich im Raum aus. Vampa atmete ihn tief ein wie in so vielen Nächten zuvor. Ihm stiegen davon Tränen in die Augen.
     
    Apolonia erwachte von einem schweren Elendsgefühl. Ihr war kalt und sie sehnte sich nach einem gründlichen Bad. Mit einem unbeholfenen Schlürfgeräusch hob sie den Kopf und entdeckte peinlich berührt einen feuchten Fleck auf der Decke. Die hygienischen Befürchtungen machten ihr allerdings noch mehr zu schaffen als das Schamgefühl - wer weiß, welche Bakterien sie sich aus der Decke eingefangen hatte. Sie rieb sich über die müden Augen und begegnete Vampas Blick. Er saß im Schneidersitz hinter der Petroleumlampe und schien das Licht gemustert zu haben, ehe seine Augen zu seinem liebsten Beobachtungsobjekt zurückgewandert waren: Apolonia.
    »Du hast nicht lange geschlafen«, stellte er fest.
    Sie musste sich konzentrieren, um seiner klanglosen Stimme eine Bedeutung abzuringen, räusperte sich und setzte sich auf. »Ich habe grässliche Kopfschmerzen. Wie spät?«
    »Wahrscheinlich geht bald die Sonne auf. In einer halben Stunde.«
    Apolonia drückte sich mit dem Handballen gegen die pochende
Stirn. Ihr sauberes Bett, frisch gebügelte Kleider, Trude mit heißer Honigmilch … wenn sie sich nur fest genug auf diese Vorstellungen konzentrierte, vergaß sie ihre eigentliche Umgebung. Wie tief war sie in wenigen Tagen gesunken! Statt Trude und gemütlicher Lesestunden bei Gebäck und Tee hatte es Eck Jargo gegeben, Morbus und die Dichter, Drohungen, Gefahr, Verfolgungen durch die Polizei …
    Und jetzt war nicht mal Tigwid mehr da. Sie lachte unwillkürlich auf - als wäre Tigwid irgendeine Stütze gewesen! Er war doch so einfluss- und mittellos, wie eine Waise aus der Unterschicht nur sein konnte. Umso erbärmlicher, dass sie sich nach seinem

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