Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
dieses Bild zu schicken! Das ist ja ekelhaft.
»Verzeihung!«, sagte Trude.
»Nein, nicht zu eng. Mir ist nur - heiß.« Apolonia winkte zum Fenster hin. »Oh, ich ersticke gleich! Trude, schnell, mach das Fenster auf.«
Trude wuselte zum Fenster und riss es auf. »Fühlen Sie sich nicht gut, mein Fräulein?«
Ganz dringend muss ich raus! Oder ich könnte auch hier unten …
»Nein!« Apolonia warf einen glühenden Blick zum Bett.
Untersteh dich! Das Bild von der Königin, die nicht auf einer Weltkugel tanzt, sondern auf einem Marder trampelt.
»Nein?« Trudes Augen wurden immer größer. »Aber was haben Sie denn bloß?«
»Äh … das will ich nicht anziehen!« Apolonia wies auf das Kleid auf ihrem Bett, das Trude geholt hatte. Es gefiel ihr tatsächlich nicht: Hellrosa mit weißer Spitze traf nun wirklich nicht ihren Geschmack. »Hol mir ein Kleid in Schwarz.«
»Aber ich dachte, heute ist doch ein besonderer Anlass, und das Fräulein könnte wenigstens einmal …«
»Was, wie ein Spanferkel aussehen?«
Trude ließ die Schultern sinken. »Immer schwarz, schwarz, schwarz. Warum muss das Fräulein immerzu trauern? Keine
Witwe auf der Welt hat je so oft Schwarz getragen. Dabei passt Rosa so gut zu Ihren Haaren …«
»Und Schwarz passt gut zu meiner Stimmung, wenn ich diese Gardine noch länger auf meinem Bett liegen sehe. Hol mir jetzt ein Kleid, in dem ich einigermaßen vernünftig aussehe!«
Trude kniff die Lippen zusammen, doch dann hob sie das rosafarbene Kleid mit äußerster Behutsamkeit vom Bett und verschwand im Ankleideraum. Kaum einen Moment später flitzte der Marder unter dem Bett hervor und war aus dem Fenster. Die Vorhänge wehten ihm hinterher, und Apolonia empfing zum Abschied ein schönes Bild von einem Sonnenuntergang, den Knebel irgendwann im Sommer beobachtet haben musste; dann war er fort.
»Bis dann also«, murmelte Apolonia und verschränkte fröstelnd die Arme vor der Brust. Obwohl keine Wolke am Himmel hing, war es kühl. Sicher würde es bald den ersten Schnee geben. Apolonia hörte Trudes Schritte hinter sich.
»Trude, kannst du bitte sofort das Fenster schließen? Bei der Kälte bekomme ich ja einen Schnupfen.«
Die Gesellschaft
D er gesamte westliche Hausflügel gehörte Nevera Spiegelgold. Sie besaß drei Salons, ein Schlafzimmer, zwei Bäder und eine Bibliothek. Diesen Morgen hielt sie sich in einem ihrer Salons auf, der durch mehrere Fenster dem Park entgegenblickte. Schon als Apolonia in den Korridor einbog, hörte sie die durchdringende Stimme ihrer Tante und Klaviermusik, denn die Türflügel des Salons standen offen. Apolonia trat ins Zimmer und wartete, bis ihre Tante sie bemerkte. Nevera stand auf einem Hocker, in der einen Hand eine Zigarettenspitze, in der anderen eine Seidenschärpe, die sich um ihre Schulter und ihre Hüfte schlang und am Saum ihres Kleides von einem Schneider festgesteckt wurde.
»Apolonia!«, rief sie aus, als sie Apolonia entdeckte, und setzte die Lippen an ihren Zigarettenhalter. Ihre Wangen wurden hohl, als sie inhalierte. »Schätzchen, komm herein!«
»Guten Morgen, Tante.« Apolonia trat näher. Nevera war eine große, schlanke Frau mit einem langen Hals und langen Fingern; ihre Nase war dafür umso kürzer, sodass die Nasenlöcher stets sichtbar waren, und ihr kleiner Mund konnte sich zu einem erstaunlich breiten Lächeln verziehen.
Der Schneider hatte sich inzwischen aufgerichtet und schob sich die Brille zurecht. »Fräulein Spiegelgold, nehme ich an?«
Apolonia nickte und reichte ihm die Hand.
»Du kommst reichlich spät, Liebes.« Nevera inhalierte noch einmal, dann winkte sie ein Dienstmädchen heran und gab ihr den Zigarettenhalter. Der graue Rauch umwaberte Neveras Gesicht, dann richtete sich der Blick ihrer hellen Augen auf Apolonia. »Ich habe Trude vor mehr als einer Dreiviertelstunde geschickt, um dich zu wecken. Aber nun gut, die Liebe ist schon alt. Und früher war sie gewiss auch nicht die Schnellste. Jedenfalls musst du dich jetzt gedulden, bis mein Kleid so weit ist. - Sie da unten, wann sind Sie fertig?«
»Bald, Frau Spiegelgold!« Der Schneider beeilte sich, ging in die Knie und nahm den Kleidersaum in Augenschein. Flink tanzte seine Nadel auf und ab.
»Hast du schon gefrühstückt, Apolonia?«, fragte Nevera und fuhr noch im selben Atemzug, an das Dienstmädchen gewandt, fort: »Hol uns Tee, Croissants und Konfitüre. Aber trödel nicht wieder, letztes Mal war der Tee schon kalt, als du ihn gebracht
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