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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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man alle schönen Blumen gepflückt, aber… du hast noch Erde und Pflanzen, und die werden neue Blüten haben. Ich habe nichts. Ich kenne weder schöne Blumen noch hässliches Unkraut. Keine Erde, aus der Neues wachsen kann.«
    Tigwid sah ihn an und richtete sich erschrocken auf: Schweiß glänzte auf Vampas Gesicht. Seine Augen leuchteten fiebrig. Das Blut von der Schusswunde überzog seinen ganzen Oberkörper mit geronnenen Rinnsalen.
    »Vampa!« Tigwid stürzte neben ihn, als er sich auf den Rücken sinken ließ.
    »Ist schon in Ordnung.« Vampa tätschelte ihm den Arm. »Ich kann nicht sterben.«
    Tigwid starrte ihn an. Aber mittlerweile verblüffte ihn das gar nicht mehr; im Grunde hätte er sich etwas ähnlich Unheimliches bei Vampa denken können. Langsam setzte er sich zurück und beobachtete, wie Vampa die Augen schloss.
    »Ich sterbe nicht«, wiederholte er tonlos. »Ich verändere mich nicht. Weißt du, wie alt ich bin, Gabriel? Dreiundzwanzig.
Ich bin dreiundzwanzig… gefangen in diesem Vierzehnjährigen! Bist du auch unverwundbar?«
    Tigwid schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste, nein.«
    »Gut. Gut… Ich habe nur geglaubt, dass alle, die in den Blutbüchern gefangen stehen, so sind wie ich. Aber du … bist ja ganz normal.«
    »Ganz normal, wer ist das schon?«, murmelte Tigwid. Gleichzeitig überlegte er, ob seine Mottengabe etwas damit zu tun hatte, dass er nicht wie Vampa ein lebender Toter war. Hatten seine Fähigkeiten womöglich verhindert, dass die Dichter ihm alles rauben konnten? Plötzlich erstarrte Tigwid: seine Mottengaben! Wusste Vampa durch das Buch, dass er eine Motte war? Mit pochendem Herzen schielte er zu ihm hinab, aber Vampas Gesicht verriet nichts, wie immer.
    »Wieso kannst du sterben, Gabriel? Und… und du kannst fühlen. Du bist wütend auf Ferol, weil er dir deine Erinnerungen gestohlen hat. Wut. Wie ist das?«
    Tigwid konnte es nicht erklären und war auch viel zu beschäftigt mit der Frage, ob noch jemand außer Apolonia und Bonni sein größtes Geheimnis kennen könnte.
    »Keine Ahnung, es ist so wie ein Knoten und dein Kopf fühlt sich irgendwie schummrig vor - vor Wut eben. Kannst du denn wirklich gar nichts fühlen?« Tigwid sah ihn beklommen an. »Das muss man doch irgendwie rückgängig machen können. Irgendwie muss ich meine Erinnerungen zurückbekommen können, und du dein Leben.«
    »Das hatte ich vor. Ich wollte sehen, ob man seine Erinnerungen wieder aufsaugen kann, wenn man sein Buch findet. Aber du kannst ja nicht lesen.«
    Tigwid stützte grimmig das Gesicht in die Hände. Dann merkte er, dass Vampas Kopf zur Seite genickt war und er die Augen geschlossen hatte.

    »Vampa - he, Vampa! Bist du dir wirklich sicher mit der Unsterblichkeitssache?« Er klopfte ihm auf die Wangen. Sie waren nicht nur so grau wie die einer Leiche, sondern auch so kalt. Ein leises Keuchen kam aus seinem Mund.
    »Gleich«, hauchte er. »Ist gleich … vorbei.«
    Tigwid wischte sich über die Stirn. »Das ist viel zu verrückt. Wie ist es eigentlich, zu sterben?«
    »Weiß ich nicht, bin nur tot.«
    »Oh … und wie ist das so?«
    Vampa atmete langsam und tief. Bald war die Nacht vorüber. Höchstens eine Stunde noch, dann war alles wieder wie immer.
    »Verbluten, das ist bisschen wie erfrieren«, flüsterte er. »Du spürst, wie es aus dir rausläuft, die Kraft… Wärme. Und ersticken ist so grässlich wie verbrennen, glaub ich. Bin aber nie richtig verbrannt. Ersticken is furchtbar.«
    Tigwid erwiderte nichts. So saßen sie eine lange Zeit schweigend nebeneinander, während Vampas Kräfte schwanden und Tigwid sich verschiedene Todesarten durch den Kopf gehen ließ. Dann schweiften seine Gedanken wieder zu seinem geraubten Glück, zu den Dichtern, zu den Mottengaben, die sie benutzten… zu seiner eigenen Gabe… und zu Apolonia. Hatte sie recht gehabt? War etwas Teuflisches, Böses an den Motten und ihren Gaben? Wie sonst konnte jemand so grausame Dinge tun?
    Er hatte sich einfach gefragt, wie und weshalb die Mottengaben funktionierten, und nun war er auf einen ganzen Haufen Geheimnisse und Rätsel gestoßen. Er seufzte. Vielleicht hätte er gar nicht erst über seine Gabe nachdenken sollen, vielleicht hätte er einfach hinnehmen sollen, wie das Leben war. Dann hätte er nie erfahren, dass seine stille Trostlosigkeit einen Grund hatte. Dann hätte er Apolonia nie überredet, mit zu Eck Jargo zu kommen. Bei diesem Gedanken spannten
sich seine Muskeln. Er hätte sie nie

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