Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
Schale darunter, um das Blut aufzufangen. Nun nahmen Morbus und der junge Dichter an einem Tisch Platz, während der andere Dichter Tinte in die Schale mit dem Blut goss. Morbus zog eine lange Schreibfeder aus dem Mantel und begann, auf ein Papier zu schreiben. Dabei wandte er den Blick nicht von seinem Gegenüber. Der junge Mann begann zu zittern. Er warf den Kopf zurück, öffnete die Lippen und zeigte zusammengebissene Zähne. Die anderen Dichter hielten ihn fest, als er von seinem Stuhl zu kippen drohte. Dann sank er mit einem Seufzen auf die Tischplatte. Morbus erhob sich und blies vorsichtig die Bluttinte auf dem Papier trocken. Während sich die anderen Dichter um den Bewusstlosen kümmerten, wandte Morbus sich um und kam mit schleichenden Schritten auf Apolonia zu.
»Guten Morgen, Fräulein Spiegelgold.« Er blieb so hinter dem Stuhl stehen, dass sie ihn nicht sehen konnte. Sie hörte ein leises Klicken. Schweiß trat ihr in den Nacken.
Morbus öffnete eine Taschenuhr. »Obwohl - Gute Nacht kann man durchaus noch sagen. Es ist drei Uhr dreiundfünfzig.«
Er beugte sich zu ihr vor. Sie fühlte seinen Atem auf der Kopfhaut. »Ich mag die Nacht lieber als den Tag. Für mich ist die Nacht erst vorüber, wenn das Tageslicht die ersten Schatten zeichnet. Womöglich liegt das daran, dass ich eine Motte bin. Uns sagt man die Vorliebe für künstliches Licht nach.«
»Wo bin ich?«, fragte Apolonia so beherrscht, wie sie konnte.
Morbus legte eine Hand an ihre Wange. »Keine Sorge, Fräulein Spiegelgold. Du bist unter Artgenossen.« Sein Lachen hätte von einer Klapperschlange stammen können. Als Apolonia das Gesicht abwandte, gruben sich kühle Finger unter ihr Kinn. »Würdest du mir einen Gefallen tun, meine
Liebe? Lies doch bitte diesen Satz und sage mir, was du davon hältst.« Er drehte ihren Kopf nach vorne und hielt ihr mit der anderen Hand das Papier vor.
Sie kniff die Augen zu. »Auf den Trick falle ich nicht rein!«
Die Finger gruben sich so fest unter ihren Kiefer, dass ein jäher Schmerz durch ihre Schläfen schoss. »Öffne deine Äuglein …« Sein Singsang schlug in einen barschen Ruf um: »Kastor, Jacobar!«
Apolonia hörte, wie zwei Dichter herbeieilten. Grobe Finger drückten ihr auf die Augenbrauen und zogen ihre zusammengekniffenen Lider auf. Sie drehte den Kopf, versuchte, die Hände abzuschütteln, aber jeder Widerstand war zwecklos. Das Papier wurde ihr vor die Nase gedrückt. Ihr Blick streifte die Schrift, und obwohl sie es nicht wollte, schlüpften die Buchstaben durch ihre Augen, durchwanderten ihr Hirn, fügten sich zusammen. Jetzt bewegte sie sich nicht mehr.
Die Hände ließen von ihr ab, nur Morbus beugte sich tiefer und war Wange an Wange mit ihr. »Lies es dir gut durch …«
Apolonia hörte ihn nicht.
Du liebst die Dichter. Du bist ein Dichter. Du hasst Erasmus Collonta.
Tausend Bilder und Worte durchzuckten sie wie in wirren Träumen, die sich alle zu einem einzigen Traum verdichteten.
Trude, die ihr die Strümpfe anzieht. »Das junge Fräulein ist nun eine Dame …« Sie blickt zu ihr auf und ein grünes Blitzen durchwandert ihre Augen. »Du bist ein Dichter!«
Ihr Vater, der ihr auf die Schulter klopft. »Wissen ist Macht, Apolonia. Sammle so viel Wissen wie du kannst und du wirst viel erreichen …« Seine Hand an ihrer Schulter wird fremd und die Finger bohren sich in ihre Haut. »Du liebst die Dichter, Apolonia. Du hasst Erasmus Collonta!«
Ihre Mutter, die lächelt, kühl und hell wie der Frühlingshimmel. »Du bist ein besonderer Mensch, Apolonia.« Dann verwandeln sich ihre Augen in die von Morbus, bohren sich gleißend in sie hinein. »Du bist ein Dichter, Apolonia. Du liebst sie. Du liebst sie! Du liebst sie!«
Sie selbst, wie sie vor dem Spiegel steht und ihr Gesicht betrachtet. Sie flüstert: »Wer muss schon klug sein, wenn er schön und reizend ist?« Sie neigt den Kopf. »Wer muss schön und reizend sein, wenn er klug ist!« Ihr stilles Lächeln verzerrt sich kaum wahrnehmbar. »Ich liebe die Dichter. Ich hasse Erasmus Collonta. Ich hasse Erasmus Collonta!«
Morbus lächelte. »Jetzt sind wir einer Meinung, nicht wahr? Saug die Wahrheit auf. Du liebst die Dichter. Du bist ein Dichter. Du hasst Erasmus Collonta.« Er senkte langsam das Blatt und drehte Apolonias Kopf, sodass er ihr in die Augen sehen konnte.
Mehrere Momente lang starrte sie ihn an wie eine Leiche. Dann blinzelte sie träge. »Ich … die Dichter… nicht .« Sie schluckte
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