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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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hinbringen dürfen. Was hatte er sich nur gedacht? Dass einem Mädchen aus der Oberschicht zu trauen war? Hatte er wirklich geglaubt, dass so eine ihm helfen würde? Die Reichen scherten sich doch keinen Pfifferling um die Sorgen der einfachen Leute! Und er war auf Apolonia reingefallen, er hatte sie zu Eck Jargo gebracht, und es war nicht nur ihre, sondern auch seine Schuld, dass die letzte Zuflucht vor der kalten, rauen Wirklichkeit, die letzte Traumwelt für immer verloren war.
    Tigwid unterbrach sich in seinen Vorwürfen, als er ein leises Wimmern vernahm: Vampas Wunde war verschwunden. Ihm klappte der Mund auf.
    »Wo ist die Kugel hin?«
    »Alles kehrt dahin zurück, wo es hergekommen ist.« Schwerfällig richtete Vampa sich auf, fuhr sich über die unverletzte Schulter und wandte sich dem zerbrochenen Spiegel an der Wand zu. Nachdenklich berührte er die Spitzen seiner zotteligen Locken, die plötzlich viel länger waren als noch vor wenigen Augenblicken. Dann zog er ein Taschenmesser hervor und schnitt sich die Strähnen ab, bis sie so kurz waren wie Tigwids. Tigwid hatte das merkwürdige Gefühl, dass er mit Absicht versuchte, sich denselben Schnitt zu verpassen.
    »Das ist unglaublich. Du kannst wirklich nicht sterben. Nur weil jemand deine Erinnerungen in ein Buch geschrieben hat.«
    Vampa strich sich einen Seitenscheitel, der einfach nicht halten wollte, und steckte sein Messer wieder ein. »Zwischen einem normalen Buch und einem Blutbuch ist ein so großer Unterschied wie zwischen einem gemalten Bild und einem echten Menschen.«
    Tigwid stützte sich mit den Armen auf die Knie. »Ich werde Ferol finden. Sobald er rückgängig gemacht hat, was er mir
angetan hat, werde ich ihn - ich werd ihn… ich werde ihm schlimme Dinge antun!«
    Plötzlich glitt ein Glänzen durch Vampas Augen. Er ließ von seinen Haaren ab und drehte sich zu Tigwid um. »Du hast doch die Dichter gesehen. Du, du weißt, wo sie sind! Wir können hingehen und bestimmt sind bei ihnen auch die Bücher …«
    »Wenn es den Ort noch gäbe - aber du hast ja gesehen, was mit Eck Jargo passiert ist. Und das alles wegen Apolonia!«
    »Apolonia?«
    »Sie hat die Polizei zu Eck Jargo geführt. Und ich habe sie hingebracht.« Tigwid blickte in seine Handfläche. Der Schnitt von der Scherbe, auf die er gefallen war, hatte eine dunkle Kruste gebildet.
    »Wo ist sie jetzt?«
    »Keine Ahnung. Wahrscheinlich bei den Dichtern.«
    Gleichzeitig rissen Tigwid und Vampa die Augen auf. »Sie ist …«, rief Tigwid.
    »… bei den Büchern! Wenn du sie findest, wissen wir, wo die Dichter und die Blutbücher sind!«
    Tigwid schüttelte hastig den Kopf. »Was redest du? Wir müssen uns beeilen! Sie ist bei den Dichtern! « Er sprang auf und stieß sich fast den Kopf an der Decke an. »Wer weiß, was die ihr antun - sie stehlen bestimmt ihre Erinnerungen, so wie dir und mir!«
    »Ich dachte, sie ist eine Verräterin.«
    Tigwid wich Vampas Blick aus. »Sie ist in Gefahr. Der schlimmsten, die man sich nur vorstellen kann.«
    Vampa starrte ihn an. Dann erhob er sich, wie hypnotisiert von der Niedergeschlagenheit, die sich in Tigwids Gesicht spiegelte.
    »Ja«, flüsterte er und fasste ihn am Arm. »Ich komme mit dir. Wir müssen Apolonia retten.«

Die Wahrheit

    A polonia erwachte mit Kopfschmerzen, als würde ihr eine Herde Wildpferde durch den Schädel galoppieren. Sie stöhnte leise. Dann versuchte sie, die Beule zu betasten, die unter ihren Haaren pochte, und merkte, dass sie die Hände nicht bewegen konnte. Überrascht öffnete sie die Augen. Irgendwo links von ihr schwamm ein blasses Licht, eine Petroleumlampe, die auf einem grob gezimmerten Brettertisch stand. Sie selbst saß auf einem Holzstuhl - und ihre Hände waren an die Armlehnen gebunden. Hilflos schwenkte sie mit den Füßen durch die Luft. Sie trug nur noch einen Schuh.
    Wo war sie?
    Apolonia drehte den Kopf in jede Richtung. Sie befand sich in irgendeiner Lagerhalle. Überall stapelten sich Holzbretter, lahmgelegte Maschinen staubten vor sich hin. In einer Ecke waren Pakete aufgehäuft, in denen Stapel von vergilbten Papierbogen steckten.
    Aus den Augenwinkeln sah sie, dass jemand hinter ihr war. Sie wandte den Kopf so weit herum, wie es ging, und spähte zurück.
    Am anderen Ende der Lagerhalle standen Morbus und die Dichter. Im matten Licht trat ein junger Mann vor seinen Meister und schob den Ärmel hoch. Morbus schnitt ihm mit
einem Skalpell in den Arm. Ein zweiter Dichter hielt eine kleine

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