Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
trocken, denn ihre Stimme war nicht mehr als ein Atemringen. »… liebe sie … nicht.«
Morbus ließ sie los und trat zurück, als hätte er sich verbrannt. »Was? Was hast du gesagt?«
Apolonia keuchte. Sie fühlte sich matschig wie Brei. Als hätte sie fünf Stunden lang versucht, eine schwierige Mathematikaufgabe zu lösen, zu der es keine Antwort gab. Ihr Inneres war aufgewühlt, Vergangenheit und Gegenwart und Zukunftsvisionen strömten durcheinander, Erinnerungen zerflossen mit Träumen und wahllosen Zusammenfügungen von Gedanken. Und überall und immer wieder die drei Sätze! Du liebst die Dichter … Du bist ein Dichter … Du hasst Erasmus Collonta! Aus jedem Winkel ihres Hirns schlüpften die Worte. Sie konnte kaum unterscheiden, was wahr war und was nicht; was ihre echten Erinnerungen waren und welche
Worte Trude, ihr Vater, ihre Mutter, ihr Hauslehrer, Tigwid - nie gesagt hatten …
»Wieso hat es nicht gewirkt?«, murmelte ein großer blonder Mann und warf einen Blick zu den anderen zurück. Noch immer lag der junge Dichter bewusstlos auf dem Tisch. »Es war Manthans echter Glaube!«
»Vielleicht war es nicht genug Blut«, überlegte Jacobar, ein kleinerer Dichter mit einem Schnauzer.
»Es war verdammt noch mal genug Blut!«, fauchte Morbus. Mit zuckenden Mundwinkeln strich er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Das Mädchen ist eine Motte. Sie ist resistent.«
Jacobar und Kastor blickten auf Apolonia, die sich vor Übelkeit kaum aufrecht halten konnte. Morbus zerknüllte das Papier in der Faust.
»Wie … machen … Sie das?«
»Wie bitte, meine Liebe?« Morbus zog Apolonias Stuhl herum und ignorierte ihr kränkliches Augenrollen. »Du willst wissen, was soeben geschehen ist? Willst du wissen, was sich gerade in dein Köpfchen gebrannt hat, ja? Ich will es dir erklären, schließlich bist du eine Kameradin, eine Gleichgesinnte, eine Mitstreiterin, wenn du so willst. Hinter uns liegt, wie du zweifelsohne bereits erkannt hast, der ohnmächtige Dichter Michaelis Manthan. Er hat das Bewusstsein verloren, wie es für gewöhnliche Menschen nach den psychischen Strapazen, die er erleiden musste, nicht ungewöhnlich ist, aber für eine Motte ist er zugegeben eine richtige Flasche. Ein absolutes Weichei!« Sein rasselndes Lachen umwehte ihr Gesicht. »Ich habe ihm ein Stück seines Glaubens, seines Wissens, seiner Überzeugung aus dem Hirn geschrieben - aus dem Hirn oder dem Herz, woraus, überlasse ich deiner Vorstellung. Denn er liebt die Dichter. Er ist ein Dichter. Und er hasst Erasmus Collonta. Diese drei Wahrheiten seiner Person habe
ich mir ausgeliehen, mit seinem Einverständnis natürlich, und mit Blut und Tinte auf das Blatt geschrieben. Gewiss wird Manthan bald wieder wohlauf sein. Schließlich ist das Wissen, das ihm genommen wurde, leicht wiederherzustellen. Was hast du mir doch am Hochzeitstag deiner Tante gesagt? Ja, richtig: Wahrheit ist Schönheit, Schönheit Wahrheit. Nur wolltest du mit deinem kleinen Mottenkopf diese Schönheit nicht aufnehmen, nicht wahr? Apolonia? Hörst du mich noch, meine Liebe?«
Langsam hob sie den Blick. Das Schwindelgefühl in ihr ebbte zurück, Stück für Stück, ganz langsam, und der Wirbel der Worte verstreute sich zu flirrenden Strudeln. Sie sah Morbus an. In diesem Augenblick war sie sich sicher, ihren Mörder anzusehen. Gewiss. Er würde sie umbringen, früher oder später. Nichts hinderte ihn und die Dichter daran, sie ihre schrecklichen Wahrheiten lesen zu lassen. Selbst wenn es stimmte, was Morbus gesagt hatte, dass sie resistent war, würde sie unter der Last längerer Texte zusammenbrechen. Oder verrückt werden. Deshalb waren seine Bücher so schön - sie manipulierten ihre Leser! Abscheu keimte in ihr auf, weil etwas so Schönes von so boshaften Menschen kommen konnte. Sie sammelte ihren Mut und ihre Kraft, um ihm ins Gesicht zu sagen: »Ich wusste, dass an ihnen was faul ist!«
»Faul!« Morbus wandte sich mit einem lautlosen Lachen an Kastor und Jacobar. Dann schnellte seine Hand vor und umschloss eine Haarsträhne von ihr, die er heftig hin- und herschwenkte. »Es sind Meisterwerke!«
Apolonia rang nach Luft, so stechend wurde der Schmerz in ihrem Hinterkopf. Dann ließ Morbus sie los und klopfte ihr auf die Backe. »Nichts für ungut, Fräulein Spiegelgold. Ich nehme deine Bemerkung als Kompliment und deute die Erwähnung meiner Bücher als Interesse daran, wie die Meisterwerke entstehen. Das erkläre ich dir gerne.« Er
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