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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Bilder ihrer Namen.
    Inzwischen hatten Morbus und seine Lehrlinge sich in einem Kreis zusammengedrängt. Apolonia strich sich die zertrennten Stricke von den Händen und schnellte hoch. »Da habt ihr meine Antwort!«

    In der Ferne splitterten Holztüren. Lautes Hundegebell hallte herein. Die schmalen Fenster über ihnen barsten unter hundert hackenden Schnäbeln. Ein plötzlicher Wind ließ die Papiere flattern, als Krähen und Tauben durch die Halle segelten und sich wie eine flirrende Gewitterwolke über Apolonia und die Dichter legten. Hunderte von Begrüßungsbildern durchströmten Apolonia und sie legte den Kopf in den Nacken und streckte den Vogelschwärmen die Hände entgegen.
    »Es stimmt! Es stimmt!«, kreischte Morbus durch den Lärm. »Du bist eine Motte!«
    Apolonia fühlte sich wie in einem Rausch. Morbus und seine Worte waren nicht mehr von Bedeutung. In diesem Moment spürte sie die Gefühle und Gedanken von Hunderten von Lebewesen, von jeder Ratte, von jeder Taube und Krähe, von allen Tieren, von allen. Sie waren lebendig in Apolonia. Nie hatte sie so viele Tiere auf einmal gespürt. In sich getragen. Und jetzt war es ihr egal, was Morbus sagte und ob es stimmte: Vielleicht war sie eine Motte, so wie ihre Mutter. Vielleicht konnte sie es nicht länger abstreiten, doch das spielte jetzt keine Rolle.
    Katzen und Hunde stürmten herbei, geradewegs auf die Dichter zu.
    Haltet die Dichter in Schach , flüsterte Apolonia. Bewacht sie und lasst keinen entkommen, bis ich die Polizei gerufen habe.
    Ein plötzliches Aufjaulen erklang. Apolonia erstarrte: Ein Hund, der sich gerade auf Morbus hatte stürzen wollen, blieb wie verhext stehen. Er zog den Schwanz ein und machte einen weiten Bogen um die Dichter.
    »Ha!« Morbus’ Gesicht war zu einer schrecklichen Fratze verzerrt. Die fettigen Haare wirbelten um seinen Kopf, als er zu den Vogelschwärmen aufblickte, die über ihm kreisten und nicht angriffen. »Glaubst du, du kannst mich besiegen,
Apolonia, in meiner eigenen Kunst?!« Seine verkrampften Hände richteten sich auf die Tiere, die knurrend und fiepend und keifend um ihn herumschlichen und nicht näher kamen. »Gedankenlesen und -lenken sind meine Gaben! Das sind die Gaben der Dichter, und du glaubst, der Geist der Tiere bleibt uns verschlossen?!«
    Apolonia horchte in die Tiere hinein: Haltet die Dichter in Schach. Bewacht sie und lasst keinen entkommen, bis ich die Polizei gerufen habe.
    Dann spürte sie einen zweiten Befehl. Wie an einer Klinge schnitt sie sich an Morbus’ Wort, das durch die Gedanken der Tiere hallte: Verschwindet.
    Apolonia ballte die Fäuste. Hört nicht auf ihn! Hört nicht darauf! Werft den Mann zu Boden!
    Die Hunde winselten. Die Ratten, vorher noch so angriffslustig, tanzten durcheinander und ergriffen scharenweise die Flucht.
    Bleibt da! Bleibt da!
    Nein …, kam es aus den Horden der Ratten. Er bittet uns zu gehen.
    Apolonia schossen Tränen in die Augen. Wieso verstanden die Tiere Morbus?! Die Dichter verdienten es nicht, verstanden zu werden!
    Morbus kam auf Apolonia zu. »Jetzt hast du es bewiesen: Du bist eine Motte mit herausragenden Gaben. Du musst eine Dichterin werden, Apolonia. Du musst!« Ein Lächeln flackerte auf seinen Zügen. Apolonia stolperte einen Schritt zurück. Ihr Herz hämmerte schmerzhaft schnell.
    Tut doch was! Greift ihn an! Ihr seid auf meiner Seite!
    Morbus’ Augen zuckten, als er sie hörte, und sein Grinsen wurde breiter. »Ich habe nie jemanden wie dich in Gedanken sprechen gehört. So klar und laut. Und das alles in abstrakten Bildern. Unglaublich.«

    »Kommen Sie nicht näher!« Apolonia stieß gegen einen großen Hund. Es war Buttermaus, der Bernhardinermischling.
    Lass diesen Mann nicht in meine Nähe! , beschwor sie ihn. Buttermaus sah sie aus dunklen, großen Augen an.
    Verschwindet , erscholl es aus seinen Gedanken. Übelkeit überkam sie, als ihr klar wurde, dass Morbus’ Wort in Buttermaus war und der Hund es nicht einmal zu verhindern versuchte. Zitternd sank sie auf die Knie und umschlang den großen Hund mit beiden Armen.
    Buttermaus, höre mich! Greife diesen Mann an! Buttermaus winselte leise. Rings um sie wichen die Tiere vor Morbus und den näher kommenden Dichtern zurück.
    »Du kannst uns nicht entkommen«, sagte Morbus sanft, aber Apolonia hörte an seiner Stimme, wie viel Anstrengung es ihn kostete, die Tiere vom Angriff abzuhalten. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. »Deine Tierfreunde können uns nicht aufhalten. Sie

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