Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
vermissen, wenn du sie nicht mehr kennst. Schau mich an! Los, öffnet ihr die Augen!«
… aus jedem Flug und jedem Schlaf, aus allen Kanälen und jeder Gasse, aus allen Höhlen und Häusern und Gärten! Helft mir …
Hände drückten auf ihr Gesicht. Ihr wurden die Augen aufgerissen. Morbus tauchte vor ihr auf, das kalte, schreckliche Grün der Augen bannte sie, strömte in sie hinein. Er tauchte die Feder in die Bluttinte und setzte zum Schreiben an. Fremde Finger durchtasteten ihr Gedächtnis nach Erinnerungen an ihre Mutter. Sie versuchte, sich zu verschließen. Aber die Finger durchdrangen jede Sperre, sickerten wie Fäden aus Rauch durch alle Mauern, die sie setzte … Sie spürte, wie das Gesicht ihrer Mutter fortgerissen wurde, dem Sog von Morbus’ Augen folgend, und von Sekunde zu Sekunde verblasste.
Sie schluchzte auf. Ihre Hände und Füße begannen zu zucken. Die Dichter brachen in erstauntes Gemurmel aus, als Morbus nicht zu schreiben begann. Sein Kiefer spannte sich, und Tropfen von Bluttinte fielen auf das Blatt, während er tiefer in Apolonias Erinnerungen eindrang. Pochende Hitze durchspülte ihren Kopf, als er ihre Vergangenheit durchwühlte.
Sie kämpfte gegen die wilden Wellen von Bildern an, die über ihr zusammenschlagen wollten.
Von überall, von überall, helft mir jetzt!
Morbus riss erschrocken seinen Blick von ihren Augen los, als ihm etwas ins Bein biss. Er sprang hoch und stieß einen Schrei aus: An seiner Hose hing eine Ratte.
Als die Sonne aufging, geschahen in der Stadt mehrere höchst merkwürdige Dinge. Das junge Tageslicht tastete sich über den Horizont und umrahmte die Domspitzen und Staatsgebäude, die klotzigen Fabriktürme und Industrieschornsteine mit glühendem Rot. Die Bäcker holten gerade ihre ersten Brötchen aus den Öfen, und die Arbeiterinnen huschten durch die Gassen, wegen der Kälte fest in ihre geflickten Umhänge gehüllt. Die Pferdebahnfahrer fütterten ihre Tiere und fegten den Schnee von den Rädern. Die Dienstmädchen kamen aus den vornehmen Villen, um die Zeitungen hereinzuholen, die die Zeitungsjungen schon seit Einbruch der Dämmerung austrugen. Die Straßenhunde schlichen von den warmen Küchenfenstern weg, als die Menschen erwachten. Die Marder flitzten über die Straßen, um in den Parks unterzutauchen. Sattgelb wie Eidotter stieg die Wintersonne über der Stadt auf.
Die Hunde blieben witternd stehen. Die Marder erstarrten auf den Straßen, die Vorderpfoten erhoben. Die Ratten in den Kanälen paddelten ans Trockene und spitzten die Ohren. Die Krähen besetzten die Bäume in schweigenden Kolonien und hatten die Flügel gespreizt. Sekunden verstrichen. Ein junger Messdiener wechselte verblüfft die Straßenseite, als vor ihm eine pechschwarze Katze buckelte und erstarrte. Sonst bemerkte kein Mensch das merkwürdige Verhalten der Tiere. Zwei, drei, vier Sekunden. Die Gaslaternen erloschen.
Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin erhoben sich die Krähen.
Schwarze Schatten überzogen den Himmel. Aus allen Richtungen schlossen sich ihnen Tauben an, bis die Luft vor flatternden und segelnden Flügeln vibrierte. Die Hunderudel rannten lautlos durch die Gassen, ihnen folgten Katzen, Ratten, Marder. Für Augenblicke scharrten unzählige Krallen über die leer gefegten Gardeplätze und die frische Schneedecke über den Marktstraßen wirbelte auf. Unter der Stadt, in den Kanälen, dröhnten die Rohre und Schächte von trappelnden Füßen.
Das Ziel war klar. Der Ruf eindeutig.
Die Tierscharen näherten sich einem verlassenen Lagerhaus.
Als Morbus aufsprang, kippte er das Schälchen mit der Bluttinte um, und die dunkelrote Flüssigkeit tränkte den Papierstapel. Mit Zähnen und Krallen hangelte die Ratte sich an Morbus’ Bein hoch. Eine zweite sprang wie aus dem Nichts dazu, klammerte sich fest und biss ihm in den Arm. Morbus schlug wild um sich und trat in alle Richtungen aus. Die erste Ratte flog im hohen Bogen durch die Luft und landete auf dem Tisch. Sie rollte sich aber sofort wieder auf die Füße, hüpfte durch die Bluttinte und hinterließ nasse Fußspuren auf dem Holz, als sie zu einem neuen Angriff ausholte.
Die Dichter waren vollkommen perplex. Aus den Schatten der Lagerhalle strömten Ratten wie Bäche einer einsickernden Flut. Quietschend stürzten sie sich auf die Dichter und Apolonia. Sie kletterten an ihrem Stuhl hoch und durchnagten die Fesseln. Dann hüpften sie ihr auf die Schultern, strichen ihr ums Kinn und sandten ihr die
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