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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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kalten Morgenwind. Die kleinen schwarzen Augen, die bis jetzt die beiden Jungen unter ihr beobachtet hatten, starrten ins Leere.
    »Was ist mit der?«, flüsterte Vampa.
    Ein Lächeln stieg in Tigwids Gesicht. »Ich glaube, jetzt hat es funktioniert, sie hat mich gehört!«
    Fieberhaft konzentrierte er sich, öffnete seinen Geist und versuchte, die Gefühle der Taube aufzufangen. Und ja, ganz blass, ganz verschwommen kam … ein Bild.
    Die Königin, die auf der Weltkugel tanzt.
    »Was?« Tigwid runzelte die Stirn. Dann strahlte er. Ganz klar, nur Apolonia konnte so größenwahnsinnig sein, sich so bei den Tieren vorzustellen! Sie war es bestimmt!
    Die Taube breitete die Flügel aus und stieß sich vom Ast ab. In einem steilen Segelflug überquerte sie die zugeschneite Straße.
    »Hinterher!«, rief Tigwid, fand für das Brot in aller Hast keinen anderen Platz als im hinteren Hosenbund und rannte los. Vampa folgte ihm mit wehendem Mantel.
     
    Morbus legte seinen Mantel ab. Seelenruhig strich er sich einen Fussel von der Seidenweste und setzte sich mit überschlagenen Beinen auf den Stuhl, den Jacobar ihm gebracht hatte. Dann lächelte er Apolonia an. Kastor, der blonde Dichter, erhob sich ächzend und trat zur Seite, als er ihr den fehlenden Schuh angezogen hatte.
    »Ist deinen Füßen jetzt wärmer?«, erkundigte Morbus sich und lächelte unbewegt. »Wir haben dir eine Decke über die Schultern gelegt, ein Glas Wasser gebracht, Jacobar hat dir
sogar die Schulter gekratzt, und hier hast du deinen Schuh wieder. Ich erwarte eine Antwort, Apolonia.«
    Apolonia versuchte, trotz der aussichtslosen Situation ein beherrschtes Gesicht aufzusetzen. Ihr war klar, dass die Dichter sie in ihrer Gewalt hatten und sie zu allem zwingen konnten - aber solange sie die Chance hatte, würde Apolonia es ihnen so schwer machen wie möglich. »Vielleicht würde mir das Nachdenken leichter fallen, wenn ich bequemer sitzen würde. Ich bin Holzmöbel nicht gewohnt, aber ein ganz alltägliches Kissen würde mir genügen.« Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und beschloss, damit aufzuhören, als Morbus’ Lächeln festfror.
    »Reizende Apolonia … ich werde das Gefühl nicht los, dass du mich nicht leiden kannst. Und absichtlich meine kostbare Zeit vergeudest! Ein kleines Wort, meine Liebe: Schließt du dich uns Dichtern an, ja oder nein?«
    Apolonia sagte nichts. Diese Genugtuung wollte sie ihm nicht verschaffen - noch nicht. Früher oder später würde er sowieso kriegen, was er wollte. Sie machte sich keine falschen Hoffnungen: Sie war an einen Stuhl gefesselt, hatte mehr als vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen und eine Gehirnerschütterung und den Schock der Blutsätze erlitten. Außerdem wusste niemand, wo sie war oder dass die Dichter überhaupt existierten - abgesehen von Tigwid natürlich. Der saß wahrscheinlich gerade in einer Gefängniszelle und heckte einen Mordplan gegen sie aus. Niemand würde ihr helfen. Apolonia wusste das genauso gut wie Morbus.
    »Du bist doch so wissbegierig«, fuhr er leise fort. »Bedenke, dass wir dir alle Geheimnisse verraten können, alles, was du schon immer über die Motten wissen wolltest. Ganz zu schweigen von den Geheimnissen all der anderen Menschen … Du könntest dir das Innere von jedem aneignen, ganz wie es dir beliebt. Was sagst du dazu?«

    »Es ist verlockend«, sagte Apolonia langsam. »Ich weiß allerdings immer noch nicht, wieso Sie ausgerechnet mir dieses großzügige Angebot machen - und dabei die Hände fesseln!«
    »Tu nicht so, als wärst du dir deiner Talente nicht bewusst. Ich habe dich am Hochzeitstag deiner Tante erlebt und deine - ich möchte fast sagen, an Hochmut grenzende - Selbstsicherheit war nicht zu übersehen. Nimm es mir nicht übel - wenn es jemanden gibt, der eine gute Portion Selbstbewusstsein zu schätzen weiß, bin das gewiss ich.« Er lächelte. »Hast du nicht immer schon deine Überlegenheit gespürt? War es nicht ebendieses Wissen, aus dem sich dein bemerkenswerter Stolz speist? Du weißt es, Apolonia, du weißt, dass du anders bist, besser, strahlender … weil du eine Motte bist.«
    »Ich bin keine Motte!«, erwiderte sie energisch. Dann kniff sie die Lippen zusammen und schnappte: »Stellen Sie sich vor, auch ohne übersinnliche Gaben ist ein ausgeprägter Intellekt möglich.« Sie spürte, dass Morbus dabei war, die Beherrschung zu verlieren. Die Ader an seiner Stirn pochte bedrohlich.
    »Wie recht du hast. Aber ich muss dich enttäuschen:

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