Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
In deinem Fall liegt jegliche Genialität allein an deiner Mottengabe.«
An diesem Punkt entschied Apolonia, sich nicht mehr verwirren zu lassen - jemand, der so etwas behauptete, konnte nur ihr Feind sein. »Wie kommen Sie zu dieser ungeheuerlichen Unterstellung! Ich habe keine verdammten Gaben, ich bin keine Motte, ich hasse Motten, ich hasse alle Motten!« Sie zitterte. Nach dieser kurzen Explosion durchsickerten sie Verzweiflung und Angst und das jähe Bedürfnis zu weinen. Aber sie hielt die Tränen eisern zurück, weil Morbus nur darauf zu warten schien, dass sie vor Furcht zusammenbrach.
»Interessant«, sagte er. »Die Leidenschaft hast du nicht von Magdalena.«
Apolonia biss sich beim Namen ihrer Mutter auf die Lippe. »Wie wagen Sie es, ihren Namen auszusprechen. Wie wagen Sie es, Sie - Sie Mörder -« Er hatte damals Magdalenas Geist zurückgehalten, sodass sie nicht mehr zurückkehren konnte … er war der Mörder ihrer Mutter. Und sie war ihm hilflos ausgeliefert.
»O nein, Magdalena ist in keinem Buch gefangen. Apolonia. Sieh mich an. Würde ich dich bitten, mein Lehrling zu werden, wenn ich deine Mutter auf dem Gewissen hätte?«
Apolonia schniefte. »Es waren Motten, die meine Mutter getötet haben!«
»Hasst du die Motten deshalb? Aber deine Mutter war selbst eine Motte. Magdalena war eine Motte und sie war eine Anhängerin der Dichter.«
Apolonia starrte ihn an.
»Deine Mutter hätte gewollt, dass du in ihre Fußstapfen trittst. Schließe dich uns an. Und du wirst Dinge lernen und erfahren, von denen du nicht zu träumen gewagt hättest. Wir brauchen dich, Apolonia… im Namen deiner Mutter, vollende das Werk, das Magdalena begonnen hat: Schreibe mit uns die Wahrheit in Bücher. Werde mein Lehrling, und ich zeige dir eine Welt voll Schönheit, wie du sie nirgendwo sonst finden wirst, in keiner anderen Kunst und keiner noch so großen Liebe!«
Sie wusste nicht mehr, was sie denken und fühlen sollte. Wer war Morbus nur? In einem Augenblick schien er vollkommen verrückt und boshaft und dann wieder so … ehrlich. Was, wenn er recht hatte? Wenn ihre Mutter wirklich eine Dichterin gewesen war? Aber wer, wenn nicht die Dichter, hatte sie dann umgebracht?
Nein, nein, Morbus war wahnsinnig, und als ihre Mutter das Geheimnis seiner Bücher aufdecken wollte, hatte er sie beseitigt!
»Ich glaube Ihnen nicht.«
Morbus presste seine Hand gegen die Nasenwurzel. »Du lässt mir keine andere Wahl! Jacobar … hole mein Werkzeug.«
Der Dichter lief los, während Morbus sich bedächtig die Ärmel hochkrempelte. »Weißt du … wir können es uns leider nicht leisten, dich wegen persönlicher Schicksalsschläge aufzugeben. Ein Jammer, dass ausgerechnet die Erinnerung an deine Mutter dich Motten hassen lässt. Wir brauchen dich und deine Gabe. Mit oder ohne die Erinnerung an Magdalena.«
Apolonia wandte erschrocken den Kopf, als sie hörte, wie die Dichter sich hinter ihr aufstellten. Jacobar reichte Morbus ein Skalpell. Ein anderer schob ihr den Ärmel hoch.
»Was tun Sie?!« Sie versuchte, den Dichter abzuschütteln, aber sie bewirkte bloß, dass ihr die vergilbte Decke von den Schultern glitt. Morbus setzte das Skalpell an ihren Oberarm.
»Keine Angst, Apolonia. Es tut nur ganz kurz weh. Und später«, die Klinge grub sich in ihre Haut, »wirst du dich an keinen Schmerz erinnern.«
Sie schrie. Die Dichter hielten sie fest, das kalte Metall drang durch ihre Haut. Warm lief es ihr den Arm hinab. Tränen flossen ihr übers Gesicht, als ein Dichter ein Schälchen unter den Schnitt hielt und das Blut auffing. Vor Grauen zitterten ihre Knie. Ihre Mutter, die Erinnerungen an ihre Mutter - die konnten sie ihr nicht nehmen, das war unmöglich! Tausend Bilder schossen ihr in den Sinn, Magdalenas Lächeln, die Riten im Salon, der weiße, reglose Körper, den der Geist für immer verlassen hatte …
Morbus nahm ihr Blut und mischte es mit Tinte.
»Das könnt ihr nicht machen! Ich vergesse sie nicht, das könnt ihr nicht tun!«
Die Dichter schoben den Brettertisch zwischen sie und
Morbus und legten ihm einen Stapel Papier vor. Er zückte seine Feder. »Sieh mich an, Apolonia.«
Sie kniff die Augen zu. Ein Ausweg… irgendein Ausweg! Sie brauchte Hilfe!
Polizei …
Tigwid! O Gott, Tigwid …
Lieber Gott …
Hilfe. Helft mir!
»Apolonia, öffne die Augen. Es wird nicht wehtun.«
Wer auch immer mich hört, ich brauche Hilfe! Aus allen Laubhöhlen, aus allen Bäumen …
»Du wirst deine Mutter nicht
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