Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
in Blut und Tinte.
Sollte sie nicht mal hineingucken? Sie war schließlich eine Motte, ein kurzer Blick konnte doch nicht schaden.
Und trotzdem traute sie sich nicht, das Buch zu öffnen, bis ihr klar wurde, dass sie sich nicht traute - da atmete sie tief ein und fasste Mut. Resolut klappte sie den Buchdeckel auf.
Die erste Seite war gelblich und leer. Die zweite auch. Gleich musste sie sich auf die Macht der Wahren Worte gefasst machen. Ihre Finger zitterten, als sie umblätterte. Auf der dritten Seite stand geschrieben:
Von Professor Rufus Ferol .
Das Neunzehnte Buch.
Der Junge Gabriel
Sie starrte die Worte eine Weile an. Aber sie spürte nichts Außergewöhnliches, außer dem kalten Wassertropfen, der von der Decke in ihren Nacken gefallen war. Sie wischte sich das Wasser wütend weg und blätterte um.
Eine Zeichnung aus dunkelroter Bluttinte füllte die Seite aus. Apolonias Herz blieb stehen.
Die Zeichnung war Tigwid.
Er sah sie an, direkt aus der Tinte heraus, er war es, ganz unverkennbar, so unglaublich echt, dass Apolonia der Atem stockte und sie sich nicht regen konnte, als sehe er sie an, wohl wissend, dass sie seine geheimste Wahrheit in den Händen hielt und soeben dabei war, sie zu ergründen. Sie konnte sich nicht von der Zeichnung losreißen. Auf die Schrift war sie gefasst gewesen, ja - aber das… die schiere, unglaubliche Echtheit, die Schönheit der Zeichnung war überwältigend.
Erst als Apolonia Geräusche hörte, klappte sie das Buch hastig zu, legte es auf den Stapel zurück und rollte sich in die Decken. Ihr Herz raste. Noch immer sah sie die Zeichnung vor ihren geschlossenen Augen, als hätte sie sich in ihre Netzhaut gebrannt.
Schritte näherten sich. Dann trat jemand zwischen sie und die Petroleumlampe und warf einen Schatten über sie. Apolonia tat, als wäre sie eingeschlafen - wenn sie sich jetzt Vampa zuwandte, würde er ihr bestimmt von den Augen ablesen können, was sie gesehen hatte.
Sie hörte, wie Stoff raschelte, als Vampa in die Hocke ging. Sein Atem ging schnell, er musste gerannt sein. Plötzlich berührte er eine Strähne ihrer Haare. Ganz vorsichtig nahm er sie in die Hände und strich mit den Fingern darüber.
Erschrocken drehte sie sich um. Er starrte sie an - und für den Bruchteil einer Sekunde schien es, als sei da eine Regung in seinen Augen. Ein Schimmer von Entsetzen. Er ließ ihre Haare los und wich so hastig zurück, als hätte er sich verbrannt.
»Ich habe Essen geholt«, sagte er schnell und hob einen riesigen Hochzeitskuchen an, den er auf einem Bücherstapel abgelegt hatte. Seine Finger gruben Dellen in die Sahnewände, als er Apolonia den Kuchen hinhielt.
Apolonia richtete sich auf. »Wo hast du denn den her?«
»Aus einer Konditorei.«
»Welche Konditorei hat jetzt noch offen? Ich dachte, es wäre Nacht.«
»Die Konditorei war nicht offen.«
»Verstehe.« Apolonia sah ihn misstrauisch an, wie er ihr so den Kuchen anbot, als würde er erwarten, dass sie ihr Gesicht hineintauchte. Schließlich bohrte sie ihren Zeigefinger in die Sahne und kostete. »Hm.« Es schmeckte köstlich. »Wieso eine Hochzeitstorte?«
»Die Brote waren alle noch nicht gebacken. Und… ich dachte …«
»Du dachtest, für jemanden wie mich wäre etwas Exquisiteres angebracht.«
Vampa nickte.
Apolonia bohrte noch einmal den Finger in den Kuchen und schleckte ab. »Hast du Besteck?«
Vampa sah sie an, als hätte sie in einer fremden Sprache gesprochen.
»Also nicht.« Sie zögerte. »Wenn ich das hier mit den Fingern essen soll, dann musst du dich umdrehen. Man guckt sich nicht beim Essen zu, wenn man gezwungenermaßen wie ein Schwein isst. Verstanden?«
Wieder nickte Vampa, dann stellte er behutsam den Kuchen
vor ihr ab, drehte sich um und stützte die Arme auf die Knie. Apolonia vergewisserte sich, dass er nicht zu ihr zurückschielte, dann griff sie vorsichtig mit der Hand in den Kuchen und stopfte sich alles auf einmal in den Mund. Köstlich!
Eine Weile futterte sie leise in sich hinein und Vampa starrte die Wand an. »Apolonia?«
Sie verschob einen Riesenbissen in die linke Backe. »Hm?«
»Es … tut mir leid wegen der Ohrfeige.«
Sie schluckte hinunter. »Nun. Was geschehen ist, ist geschehen.«
Vampa zögerte kurz. »Aber ich wünschte, es wäre nicht geschehen.«
»Vergiss es einfach.« Wenn er es jetzt so bereute, warum hatte er es dann überhaupt getan?
Er wollte sich zu ihr umdrehen, da fiel ihm auf, dass sie noch aß, und er wandte sich gehorsam
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