Nocturne City 02 - Blutfehde
das Wasser schaute, fiel mir mein Gespräch mit Asmodeus wieder ein: Ich würde das Ding in der Siren Bay versenken …
„Entweder Sie geben mir jetzt den Schädel, oder ich hole ihn mir!“, brüllte Seamus. Ohne lange zu überlegen, griff ich mit einer Hand nach dem Stahlseil über mir, stieg auf das schmale Metallrohr des Geländers, streckte meinen freien Arm aus und hielt den Schädel über das windgepeitschte Wasser der Siren Bay.
„Dann versuchen Sie es doch!“, forderte ich ihn mit ruhiger Stimme heraus. Trotz meiner weichen Knie und des heulenden Winds hatte ich das Gefühl, ganz genau zu wissen, was ich tun musste, um diesen Albtraum ein für alle Mal zu beenden.
Verdammter Adrenalinjunkie, anscheinend bist du wirklich erst zufrieden, wenn alles um dich herum im Chaos versinkt!, schoss es mir durch den Kopf, aber ich ließ mich nicht beirren. Entschlossen drückte ich den Schädel an mich, ließ das Stahlseil los und stürzte mich in die Tiefe.
Eigentlich hatte ich bei einem freien Fall über sechzig Meter erwartet, dass der so oft zitierte Lebensfilm vor meinen Augen ablaufen würde. Stattdessen sah ich aber nur eine blau-graue Fläche, die mit der zunehmenden Geschwindigkeit meines Sturzes immer mehr verwischte, während der Lärm der vorbeirauschenden Luft meine Ohren betäubte.
Als ich mich gerade darauf eingestellt hatte, in Kürze auf der Wasseroberfläche aufzuschlagen, ging ein Ruck durch meinen Körper, und im nächsten Augenblick hing ich senkrecht in der Luft. Es war so, als hätte ein besonders grausamer Racheengel seine Hand ausgestreckt, um mich nicht einfach so davonkommen zu lassen. Als ich nach oben blickte, sah ich anstelle eines Engels Seamus, der über mir schwebte und meinen freien Arm gepackt hatte. Seine Gesichtszüge hatten sich so stark verzerrt, dass sie kaum noch menschlich schienen. „Geben Sie mir den Schädel, oder ich lasse Sie fallen“, knurrte er.
„Denken Sie wirklich, dass ich davor Angst hätte?“, erwiderte ich sachlich, da mir im Angesicht des Todes keine Beleidigungen mehr einfallen wollten.
„Dann werde ich mir den Schädel eben nehmen und Sie danach in Stücke reißen, Sie verdammtes Dreckstück!“, schrie Seamus und streckte seine Hand nach dem Schädel aus. Durch seine Drohung provoziert, übernahm mein Flieh-oder-kämpf-Instinkt die Kontrolle. Mit einer schnellen Bewegung riss ich meinen Arm aus seinem Griff los und packte Seamus am Hals.
Obwohl ich nicht annähernd so fest zudrückte, um ihm die Luft zum Atmen zu nehmen, begann er sofort zu würgen. Gleichzeitig raste der gleiche Schmerz durch meine Glieder, der mich beim Abschreiben der Runen fast getötet hatte – nur war er diesmal lange nicht so intensiv und wurde von einem Adrenalinrausch begleitet. Als ich auf meine Hand am Hals des Hexers blickte, fühlte ich plötzlich, wie meine Sinne explodierten.
„Bei den Göttern!“, schrie Seamus, als wir, immer noch in der Luft schwebend, ins Wanken gerieten und langsam zu sinken begannen. „Was tun Sie da?“
Der Schmerz in meinen Gliedern hatte sich in ein euphorisches Gefühl verwandelt und steigerte sich zu einem grenzenlosen Rausch, der meine Furcht verdrängte, als wir schneller zu fallen begannen. Seamus hingegen war außer sich vor Angst und schrie nun wie besessen, während sich seine Magie einen Pfad suchte und in meinen Körper floss. Mit einem Blick auf die heranrasende blau-graue Fläche unter uns holte ich tief Luft und schloss die Augen. Nachdem wir mit einem ohrenbetäubenden Knall in das eiskalte Wasser eingetaucht waren, war auf einmal alles still. Ich spürte, wie sich meine Hände entkrampften und sowohl Seamus als auch den Stoffbeutel freigaben. Gleichzeitig verlor sich mit jedem Meter, den ich in die Tiefe sank, die von Seamus absorbierte Energie. Nach und nach fiel sie von mir ab, und ein wohliges Gefühl der Erleichterung machte sich in mir breit. Erst die unerträgliche Kälte und der Sauerstoffmangel rissen mich aus diesem traumähnlichen Zustand. Wenig später kämpfte ich mit jeder Faser meines Körpers darum, nach oben zu gelangen.
Schreiend und japsend brach ich durch die Wasseroberfläche an die rettende Luft. Mein rechter Arm schien gebrochen, und der Schmerz in meinen Fußgelenken ließ mich Ähnliches vermuten. Da ich mich aber durch ungestümes Paddeln an der Oberfläche zu halten vermochte, konnte es nicht ganz so schlimm sein.
Erst jetzt begriff ich, dass ich den Sturz in das eiskalte Wasser überlebt
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