Noelles Demut
hatte sie gerade so verhindern können, Simon in die Arme zu laufen. In letzter Sekunde hatte sie sich in einen Hauseingang gepresst und er war, ohne sie zu entdecken, an ihr vorüber gegangen. Sein zufriedenes Grinsen hatte Bände gesprochen. Ihr Plan war gründlich in die Hose gegangen. Statt ihn leiden zu lassen wie einen Hund, ersoff er geradezu in seinem Glück. Wer hätte auch ahnen können, dass die kleine verstörte und traumatisierte Schlampe Masochistin war? Das war alles nicht fair.
Schmerzhaft krampfte sich ihr Herz zusammen. Sie wollte nicht an sie denken, an keinen von ihnen.
Doch als sie diese Bilder erfolgreich verdrängt hatte, schob sich ein anderes, noch schmerzhafteres in ihr Bewusstsein. Nathans angewiderter Blick verfolgte sie. Tausende Meilen hatte sie zwischen sich und ihn gebracht, aber seine Abscheu und seinen Ekel hatte sie mitgenommen. Sie hätte genauso gut in London bleiben können. Vergessen konnte sie ihn nicht.
Simons Sessions hatten ihr ein wenig Ruhe gegeben, hatten es ihr ermöglicht, wenigstens für ein paar Stunden nicht an ihn zu denken. Jetzt war er allgegenwärtig, in jeder Minute, die sie sich nicht durch Arbeit ablenken konnte.
Cassandras Finger schloss sich fest um die Schlüssel in ihrer Hand. Jetzt kam der schwerste Gang. Im Fahrstuhl atmete sie tief durch, setzte ein unverbindliches Lächeln auf und verließ das Haus. Als sie die Galerie betrat, war alles ruhig.
„Hallo?“, rief sie in die Stille. „Jesse?“
Isabella kam aus dem Büro. „Cassy? Was machst du denn um diese Uhrzeit hier? Jesse trifft sich mit Damian zum Lunch.“
„Ich wollte dir die Schlüssel fürs Penthouse geben. Meine Sachen werden heute Nachmittag abgeholt. Ich muss zu einer Tagung nach Chicago. Schade, dass Jesse nicht da ist. Ich hätte mich gern von ihm verabschiedet.“
„Kommst du nicht zurück?“
„Nein! Die Tagung dauert eine Woche und ich fliege von Chicago aus direkt nach London. Grüß ihn ganz lieb von mir.“
Das Lügen machte ihr nichts aus. In den letzten Monaten hatte sie es auf diesem Gebiet zur Perfektion gebracht. Niemand musste erfahren, dass sie auch die nächsten zwei Wochen in New York wohnte und ihre Fälle zum Abschluss brachte. Sie würde alles tun, um ihre ehemaligen Freunde und ihr Glück nicht mehr ertragen zu müssen.
Eigentlich hätte sie Isabellas verwirrtes Gesicht genießen sollen, aber dem war nicht so. Es tat weh, dass sie erneut gescheitert war.
Cassy war bereits an der Tür, da drehte sie sich in einem Anflug von Wehmut noch einmal um. Isabella stand in der Mitte ihrer Galerie und sah wunderschön aus. Aristokratisch wie einst ihre Großmutter, die unvergleichliche Daphne Steen, strahlte sie Eleganz und Stil aus. Isabella hob die Hand zu einem Abschiedsgruß. Der Ring an ihrem Finger glitzerte im hereinstrahlenden Sonnenlicht.
Plötzlich waren die Wut und der Neid aus Cassy verschwunden. Das Glück stand Isabella gut zu Gesicht.
„Wie, sie ist weg?“ Ungläubig starrte Jesse Isabellas Rücken an. Sie stand im Büro und telefonierte. Ruckartig drehte sie sich um.
„Mann, hast du mich erschreckt. Wie? Nein, nicht du. Jesse stand plötzlich hinter mir. Also kommt ihr morgen Nachmittag?“
„Cassy ist ohne ein Wort gegangen?“, quatschte Jesse dazwischen.
Isabella hob abwehrend eine Hand. „Ja! Bis morgen.“
Ungehalten funkelte sie ihn an, als sie den Hörer auflegte.
„Cassy hat mir vor einer Viertelstunde die Schlüssel in die Hand gedrückt. Sie muss nach Chicago und fliegt von dort aus direkt nach London. Ich soll dich grüßen. Das ist alles.“
Jesse lehnte sich an Isabellas Schreibtisch. „Das glaube ich jetzt nicht. Sie kann doch nicht einfach so verschwinden?“
„Scheinbar kann sie es doch. Ich weine ihr jedenfalls keine Träne nach, nach allem, was sie in den letzten Tagen abgezogen hat. Simon und Noelle freuen sich auf das Penthouse. Sie holen morgen die Schlüssel.“
„Ihre Sachen sind auch schon weg?“
„Werden heute abgeholt.“
„Was hat sie für einen Eindruck auf dich gemacht?“
„Keinen, wie immer, unterkühlt, aufgesetztes Lächeln, Cassy eben.“
„Grrrr! Du bist mir keine Hilfe. Irgendwas stimmt da nicht. Sie würde doch nicht abhauen, ohne sich zu verabschieden.“
„Ich sagte doch, sie muss zu einer Tagung nach Chicago. Vielleicht ist der Termin kurzfristig festgelegt worden?“
Jesse maulte noch ein paar Minuten, bevor er sich an die Arbeit machte. Drei von Pauls Fotos mussten noch
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