Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)
der Türkei solche Probleme. Vor einigen Jahren haben Fundamentalisten ein Hotel angezündet und siebenunddreißig Menschen sind umgekommen. Da hat sich kein Politiker sehen lassen.«
»Mein Vater ist ein gläubiger Moslem«, fügte Page hinzu. »Er betet fünf Mal am Tag. Aber sobald er Politiker im Fernsehen sieht, fängt er an, in den höchsten Tönen zu zetern – wie Scheiße die Türkei sei und was dort alles schief läuft. Dann schimpft meine Mutter mit ihm, er solle nicht so schimpfen.«
»In der Türkei ist der Türke überhaupt ganz anders«, stellte Atasoy klar. »Im Straßenverkehr zum Beispiel fahren manche Fahrer einfach bei Rot über die Ampel und irgendwann kracht es. Da schüttelt der Deutsch-Türke den Kopf und sagt: ›Bei uns in Deutschland könnte das nicht passieren‹. So sagen sie in der Türkei: nicht ›da, weit weg in Deutschland‹, sondern ›bei uns in Deutschland‹.«
»Wenn Türken aus Deutschland in die Türkei kommen, beschweren sie sich, was das denn hier für ein Chaos sei«, sagte Page. »Dann fahren sie wieder zurück nach Deutschland und machen Party bis zwei Uhr morgens, und wenn die Nachbarn klopfen, dann jammern sie: ›Was ist das nur für ein Land hier!‹«
Erfahrene Integrationsanalytiker teilen gern die in Deutschland lebenden türkischstämmigen Mitbürger mit Migrationshintergrund in zwei Gruppen: die Integrierten und die Nicht-Integrierten. Manchmal auch in: die aus Anatolien und die aus Istanbul. Solche unbedachten und ignoranten Pauschalisierungen tun einem Volk, das so vielfältig ist wie die Türken in Deutschland, unrecht. Viel fairer, menschlicher und näher an der komplizierten Wirklichkeit ist folgende Einteilung: Türken, die über Deutsche nörgeln, und Türken, die über Türken nörgeln.
»Die Deutschen haben Probleme mit den Türken, weil sie glauben, die Türken integrieren sich nicht«, sagte Erkan S. »Und das stimmt. Sie wollen sich nicht integrieren. Sie leben hier und können alles machen, was sie wollen – das sind Möglichkeiten, die sie in der Türkei nicht haben. Und sie leben trotzdem genauso wie in der Türkei: Sie wollen nur in türkischen Männercafés rumsitzen und schimpfen.«
Doch nur Geduld: Zumindest in der Themenwahl passen sich die Türken schon den nationalen Bräuchen an. »Der Deutsche stöhnt über das Wetter, wenn es ihm zu kalt oder heiß ist«, sagte Page. »Der Türke regt sich darüber nicht auf, das ist Gottes Wille. Bei den Türken in Deutschland ist es ein bisschen anders – inzwischen regen die sich hier auch über das Wetter auf.«
Auch diese Gewohnheit haben die Türken gemeinsam mit den Deutschen: über das Land schimpfen, aber es nicht verlassen.
»In Deutschland jammern sie, dass sie in einem fremden Land sind und in der Fremde leiden«, kritisiert Arzu Toker. »Aber sie ändern selbst nichts daran, sie gehen nicht zurück, sondern sie erwarten, dass die Deutschen etwas tun, damit es ihnen besser geht. Da finde ich die Deutschen aktiver. Wenn sie ihre Stadt hässlich finden, mosern sie so lange, bis einer von ihnen im Stadtteil eine Initiative gründet und Blumenkübel hinstellt, damit es ein bisschen hübscher wird.«
Je länger ich mich mit meinen scharfzüngigen Experten mit Migrationshintergrund unterhielt, desto mehr stellte ich fest, dass die Speerspitze der türk-türkischen Kritik sich gegen eine ganz bestimmte Gruppe zu richten scheint, die nach so vielen Jahren in der Fremde ihre eigene Nörgelkultur aufgebaut hat: die Deutsch-Türken.
»Die Türken behaupten, sie hätten keine Freiheit hier in Deutschland, aber sie wissen, dass das nicht stimmt«, schimpfte Erkan S. »In der Türkei kannst du nicht sagen, ›ich bin schwul‹, aber hier kannst du das, kein Problem. Aber es ist einfacher, zu behaupten, man wäre hier unfrei.«
»In der Türkei ist man fünfzig Jahre weiter als die Türken in Deutschland«, fügte er hinzu. »Hier leben die Türken ganz konservativ. Es gibt keine neue Mode, sie halten das alles für Quatsch. In der Türkei dagegen sind manche Leute moderner als in Europa.«
Toker glaubt, das hat mit einer Identitätsverwirrung zu tun: Die Türken in Deutschland glauben, sie seien Araber.
»Das Problem ist, als die Türken hierherkamen, waren sie Fremde, aber sie wurden auch in der Türkei abgelehnt, weil man dort sagte, das sind Ungebildete, die blamieren uns im Ausland. In den Siebzigern kamen dann die Saudis und sagten: ›Na, dann kommt doch zum Islam‹. Die arabischen
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