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Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)

Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)

Titel: Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric T. Hansen
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erreichen‹. Tim hat Schwierigkeiten, überhaupt zu verstehen, was ich als Wessi mit dem Wort ›Ziel‹ meine. Er sagt: ›Ich komme aus einem Land, wo ich sowieso nur bestimmte Dinge erreichen kann und andere nicht, und deshalb habe ich bestimmte Ziele nicht, weil ich sonst enttäuscht werde.‹«
    Andere Nörgelforscher bestätigten, dass ehemalige DDR-Bürger zurückhaltender sind.
    »Ich musste das nach der Wende lernen, diese Direktheit«, gab der Filmproduzent und ehemalige DDR-Bürger Jürgen zu. »Mein erster Film für das ZDF handelte von Leuten, die durch die Stasi harte Brüche in ihren Biographien erlitten haben. Ich war noch DDR-sozialisiert, noch auf der ironischen Schiene, ich sagte alles durch die Blume. Als mein ZDF-Redakteur den Film anschaute, hat er nur den Kopf geschüttelt. ›Was heißt Leute, die beobachtend unterwegs sind ?‹, fragte er. ›Na, die Stasi eben‹, antwortete ich – ›diese Verbrecher.‹ ›Dann nenn’ sie doch Verbrecher ‹, sagte er. Ich wusste gar nicht, dass ich das sagen durfte. Er musste mir helfen, alles umzuschreiben.«
    Das ist noch lange nicht die einzige Möglichkeit, den Nörgelkontrast zwischen Ost und West zu beschreiben.
    Der Psychologe, Soziologe und Ost/West-Forscher Elmar Brähler von der Universität Leipzig fand, im Osten beschwere man sich mehr als im Westen. »Es gibt schlicht eine andere Kommunikationskultur«, sagte er am Telefon. »Die Ostdeutschen neigen mehr zum Klagen als die Westdeutschen. Auch über körperliche Beschwerden. Sie sind einfach mitteilungsfreudiger. Die Ostdeutschen beschweren sich sogar über ihre Freizeit. Der Westdeutsche hat eher eine Art kapitalistisch-calvinistische Moral, à la ›Ein Indianer kennt keinen Schmerz‹. Der Westdeutsche jammert weniger, aber wenn er jammert, schämt er sich dafür; der Ostdeutsche jammert mehr, aber er fühlt sich sehr gut dabei.«
    »Wessis nörgeln über Konkretes; Ossis über alles im Allgemeinen«, meinte Stefan Schwarz dazu, Kind der DDR und scharf beobachtender Satiriker. »Der Politikerinkompetenzverdacht ist zwar gleich groß in Ost und West, aber Ossis sind aufgrund ihrer Erfahrung generell ein bisschen pessimistischer, was das Managen der Welt angeht.«
    Mit ostdeutschem Defensivmeckern ist auch Käthe C., Zeitungsredakteurin in Hamburg mit ostdeutschem Hintergrund, bestens bekannt. »Ich hab einen Ostkollegen, und meine Westkollegen wissen mittlerweile, wie sie den auf die Palme bringen können. Sie sagen nur … ›Plattenbauten!‹. Er geht sofort an die Decke: ›Das hattet ihr im Westen auch! Plattenbauten sind sowieso eine französische Erfindung!‹«
    »Systemnahe Dozenten, leitende Ärzte und solche Leute, denen es in der DDR gut ging, schimpften noch nach der Wende herum, wie man hatte so dumm sein können, DDR-Republikflucht zu begehen«, schnaubte die Berliner Psychologin, Mutter, Ossibraut und Expertin für Jammern und Klagen Babsi K. bei einem leckeren Kumpir in dem kleinen Laden Schlaraffenland in Berlin-Schöneberg. »Heute treffen sich die Grenzsoldaten und jammern, dass sie ungerecht behandelt und als Verbrecher abgestempelt werden – einige wurden auf Bewährung verurteilt. Dabei seien sie alle so menschlich gewesen, sie hätten doch meistens danebengeschossen.«
    »In der DDR meckerte man über die DDR«, sagte die Designerin und Nörgelexpertin Adele G. bei einer Tasse Kaffee in einem lauten Café in Tiergarten, »und darüber, dass die Waren so schlecht und sowieso nie zu haben waren. Heute meckert man, dass man sich ständig entscheiden muss, was das beste Angebot ist, bei Handys oder Internettarifen, das Überangebot ist anstrengend, der Mensch geht dabei verloren. Nach dem Mauerfall nörgelte man über die arroganten Wessis, die einen kleinmachten, da man zum Beispiel als DDR-Student das Falsche gelernt hatte. Und wir haben den Wessis das natürlich geglaubt, wenn sie das sagten, denn da sprach das überlegene System.«
    Von den vielen großen Verdiensten, die Deutschland ums Nörgeln errungen hat, war die Erfindung des Jahrhundertbegriffs »Jammerossi« einer der größten.
    Ähnlich wie »imperialistische Schweine« uns Amerikanern, »Warmbiertrinker« den Engländern und »Kinderficker« den Belgiern ein unverwechselbares Profil aufdrücken, verlieh kurz nach der Wende »Jammerossi« den Ostdeutschen ihre erste bedeutende regionale Identität.
    Dabei ist der Begriff ein Rätsel. Einerseits wird zwar im Osten viel gejammert, und angesichts der

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