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Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)

Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)

Titel: Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric T. Hansen
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Arbeitslosigkeit in manchen Ost-Regionen ist das auch mehr als verständlich. Andererseits lebe ich seit 25 Jahren in Deutschland, im Ruhrpott, in München und in Berlin, und in dieser Zeit hat der hohe Grad an intensivem Gejammer seitens der Westdeutschen nicht eine Sekunde lang nachgelassen. Dennoch werden die Wessis mit keinem vergleichbaren Begriff belegt – außer natürlich mit »Nazis«.
    »Ich bin mir sicher, dass Ostler kreativer und krisenfester sind als die Westler«, bestätigte Babsi K. »Sie mussten schon immer aus Scheiße Bonbon machen. Die sind geübter, denn sie haben schon eine Krise überlebt, da stand schon mal alles Kopf.«
    Was Krisen angeht, sind auch andere der Meinung, dass die Ossis mit diesen besser umgehen können als die Wessis.
    »Ossis wissen, was es bedeutet, wenn etwas zusammenbricht«, erläuterte der Satiriker Schwarz. »Die Erfahrung, dass ganze Reiche untergehen können, fehlt dieser Generation der Westdeutschen. Ihre Großeltern haben noch einen richtigen Bruch miterlebt, als das Dritte Reich unterging. Aber die Wessiwelt von heute hat sich in den letzten Jahren nur marginal verändert – untergegangen sind höchstens irgendwelche kleinen Konsummarken. Wessis können sich gar nicht vorstellen, dass es noch vor ein paar Jahrzehnten bei ihnen ganz anders aussah: dass Ehen zwischen Protestanten und Katholiken zu Familienfehden führten, dass Frauen ohne die Erlaubnis ihres Ehemannes nicht arbeiten durften. Sie denken, hier gab es schon immer Latte macchiato an jeder Ecke. Ich kann mir als Ossi zum Beispiel vorstellen, dass Opel nicht gerettet wird. Der Wessi würde das nicht sagen.«
    Die Frage, die sich jeder Nörgelforscher auf ostdeutschem Gebiet stellen muss, ist: Wenn es den Ostdeutschen im Durchschnitt politisch und wirtschaftlich heute besser geht als vor dem Mauerfall – und das tut es objektiv –, warum nörgeln sie genau über die Dinge, die besser sind: über den Staat, über die Demokratie, den Konsum und den Kapitalismus?
    Aus Gewohnheit, besagt eine Theorie. Man nörgelt auch nach der Wende über die gleichen Dinge, über die man vor der Wende genörgelt hat.
    »Das Schimpfen über den Staat war Alltag«, erklärte Adele G. »Jedes Kind kannte diese Doppelmoral: Du wusstest von Kindesbeinen an, was du zu Hause sagen durftest, und was in der Schule. Wenn man sich in der Schule über das System lustig gemacht hat, wurde man zusammengestaucht: ›Wir hätten aber mal ein bisschen sozialistischer zu sein‹. Daheim wurde aber äußerst kritisch über die Eliten – die Parteibonzen, die eifrigen Mitläufer, all die Bessergestellten, die sich dem System angedient hatten, also die Parteinahen – gesprochen. Wir lernten schnell, sie nicht allzu ernst zu nehmen, trotzdem ihnen gegenüber vorsichtig zu sein, und machten uns gern lustig über sie. Wir schimpften, die Privilegierten wären in ihrem Job oft nicht so gut wie andere, dennoch bekämen die ihre Wunschausbildung und hatten Karrierechancen, ein besseres Gehalt, eine bessere Wohnung, schneller ein Auto. Da man sich ständig als Opfer sah, hat man Antennen entwickelt, wo der nächste Täter lauern könnte.«
    Heute sehen sich viele weiterhin als Opfer und suchen sich in den gleichen Gefilden ihre Täter aus: im Staatssystem Demokratie; in den Läden, die nicht zu wenig, sondern zu viel Waren anbieten; in den Menschen, vor denen man sich weiterhin in Acht nehmen muss, nicht mehr, weil sie hinterfotzig und unmenschlich waren und der Einheitspartei gedient hatten, sondern, weil sie kalt und unmenschlich sind und dem Mammon dienen.
    »Ossis ging es damals grundsätzlich schlecht«, meinte Babsi K., »allein schon, weil man in diesem Land DDR eingesperrt war. Oder weil man mal wieder keine Cornflakes bekam. Über Klamotten gab es den Spruch: ›Andere Farbe, andere Form, anderes Material, dann wäre es ja ein wirklich schönes Stück.‹ Es gab diese gemeinsame Übereinkunft, dass wir alle furchtbar leiden müssen, und das war das Thema, das uns zusammenhielt, noch heute hält der Jammer-Smalltalk die Leute zusammen. Mein Vater zitierte damals oft das Motto: ›Lerne klagen, ohne zu leiden.‹«
    Wie »Überstunden«, »Steuerhinterziehung« und »Ich werde dir ewig treu sein«, wird auch der schöne Begriff »Jammerossi« oft falsch verstanden. Gemeint ist nicht, dass Ossis mehr jammern als andere, sondern, dass sie jammern, obwohl sie nicht – in Gegensatz zu den Wessis – das Recht dazu haben. Es ist ein

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