Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)
die rauschenden Wogen nach den Rätseln des Lebens zu fragen«.
Doch ach!, wo bleibt die Phantasie, die Experimentierfreude, der Ehrgeiz der Nörgelpropheten von damals? Gemessen an den aufregenden Süchten , die von uns gegangen sind, geben wir uns heute mit erbärmlich uninspirierten Süchten ab. Sicher, Internetsucht ist eine charmante und zeitgemäße Erfindung, Killerspielsucht lässt uns das Blut gefrieren und Sexsucht ist einfach nur geil, doch selbst sie verblassen, vergleicht man sie mit der Sucht, Europa zu knechten , vor der man sich im 19. Jahrhundert gern fürchtete.
Vielleicht wundern Sie sich, dass das prophetische Nörgeln in der Bevölkerung überhaupt so populär ist. Der Strom der Untergangsbestseller reißt ja nicht ab. Der gesunde Menschenverstand fragt sich: »Wer liest so’n Scheiß?« – wohl auch deshalb, weil kein einziges Untergangsszenario von den Zeugen Jehovas bis hin zum Milleniums-Computer-Crash-Wahn in Erfüllung gegangen ist (soweit wir wissen).
Die nackte Wahrheit ist: Prophetisches Zetern ist Unterhaltung, und zwar von der erhabensten Sorte. Das Warnen vor dem Untergang erzeugt ein ganz bestimmtes Kribbeln im Bauch, einen unvergleichlichen »Ja-du-bist-gemeint«-Thrill, den man anderswo nicht bekommt. Kein Action-Kracher über einen Killervulkan, der mitten in Los Angeles ausbricht, kann einem soviel Angst einjagen wie ein Artikel über den Verlust der Werte durch den Konsum von pixeliger Handy-Pornographie durch Jugendliche. Ein ZDF-Bericht über die Islamisierung ganzer Stadtviertel im Ruhrpott fährt uns eisiger in den Knochen als jedes Special-Effects-Epos über die baldige Explosion der Sonne. Eine Jagd durch dunkle Gemäuer, gehetzt von einem Wahnsinnigen mit Kettensäge raubt uns nicht so sehr den Atem wie ein Bericht von Greenpeace über das Sterben der Regenwälder. Die Grenze zwischen Realität und Science-Fiction verwischt hier in einem Maße, wie es kein Zukunftsroman zustande bringt.
Fragen Sie einen x-beliebigen Kinogänger, ob der Film über riesige Mutantenspinnen, den er gerade gesehen hat, ein reales Szenario entwirft, und Sie werden ausgelacht. Doch stellen Sie die gleiche Frage jemandem, der gerade einen Artikel in der Zeit über riesige Mutantenspinnen als Folge von Genmanipulation im Getreideanbau gelesen hat, werden Sie eine ganz andere Antwort bekommen. Als Unterhaltung ist prophetisches Nörgeln jeder Belletristik meilenweit überlegen.
Aber Obacht. In früheren Tagen konnte ein Prophet seine düstere Prognose damit begründen, dass die Menschheit gesündigt habe und Gott sie bestrafen würde, wenn sie sich nicht sofort bessere. Ach, waren das noch Zeiten, als für jeden Untergang nur eine Begründung reichte! Das ist vorbei, dafür gibt es aber einen entscheidenden Vorteil gegenüber den alten Tagen: Sie müssen sich heute nicht mehr in wehenden Roben in den Park stellen und wirres Zeug schreien. Der Mahner von heute spricht klar und deutlich und in wohlgesetzten Worten, die dem Zuhörer das dumpfe Gefühl vermitteln, er sei ihm intellektuell unterlegen. Wer heute erklärt, »Gott wird uns alle bestrafen«, ist einfach ein Spinner. Wer aber behauptet, »die Gesellschaft hat einen gefährlichen Weg eingeschlagen«, bei dem denken wir: »Stimmt – die ganze Zeit habe ich schon so ein komisches Gefühl.«
Dabei ist es überraschend leicht, diese Technik zu lernen. Mit ein paar einfachen Tricks können auch Sie den Untergang der Menschheit aus jedem beliebigen Grund vorhersagen, ohne unangenehme Fragen über Details beantworten zu müssen.
Um den Untergang vorherzusagen, befolgen Sie diese drei einfachen Schritte:
Man nehme irgendein Thema, am besten einen Trend oder eine gesellschaftliche Neuheit, auf jeden Fall etwas, womit das Nörgel-Publikum noch keine Erfahrung hat. Zum Beispiel: Der neue Trend unter Jugendlichen zum Barfußlaufen im Park an lauen Maienabenden.
Dann setze man ein Untergangswort hinzu. Zum Beispiel: gefährlich. Oder: Hier läuft was schief. Oder auch: Es ist fünf vor zwölf.
Als Letztes deute man die Zukunft ganz leicht an, indem man das Thema bis zu einem absurden, völlig unrealistischen Grad übertreibt. Zum Beispiel: Wenn jeder das machen würde, was passiert dann mit der Schuhwirtschaft?
Und schon hat man:
Der neue Trend unter Jugendlichen zum Barfußlaufen im Park an lauen Maienabenden ist gefährlich und wird zunehmend gefährlicher, je länger man ihn ignoriert. Sollte ein solcher Trend sich allgemein durchsetzen,
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