Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)
in jeder Form zu erkennen, wenn nicht gar spontan zu heilen. Dabei eignen sich diese Formeln für das prophetischen Nörgeln besonders gut, weil sie in Wirklichkeit religiöse Begriffe sind: Sucht und Wahn stammen beide aus der Dämonologie beziehungsweise dem Schamanentum.
Kaum ein Begriff leistet dem Mäkler so treue Dienste wie Wahn und Wahnsinn . Alle kennen Atomwahn , Verkehrswahn , Machtwahn , Wahnsystem , Rüstungswahn und vieles mehr, doch das ist nur die Spitze des Wahnbergs . In einem Experiment wurden 100 aus der Luft gegriffenen Wahn -Worte erfunden; im nächsten Schritt hat man dann diese Phantasiebegriffe im Internet gesucht. Von 100 Wörtern wurden 99 gefunden, die schon in Gebrauch waren, unter anderem die folgenden:
Sexwahn , Spaßwahn , Jesuswahn , Islamwahn , Ruhewahn (und von einem jungen Mann, der sich beklagte, seine Freundin zeige ihm neuerdings die kalte Schulter, Lass-mich-in-Ruhe-Wahn ), Schlafwahn , Passivwahn , Linkewahn (bei Debattiersüchtigen), Linkwahn (bei Internetsüchtigen), Wahnsucht , Witzwahn , sogar Gute-Laune-Wahn und natürlich Hahnwahn , Mahnwahn und Bahnwahn .
In einer Sendung mit dem poetischen Titel »Endzeit ohne Ende? Zur Psychologie apokalyptischer Visionen heute« im SWR 2 kam der Begriff 28-mal zum Einsatz, einschließlich der bahnbrechenden Wortschöpfung Wahrheitswahn .
Ein solcher Wahnwahn verrät die romantische Ader der Deutschen, waren es doch die großen Dichter der klassischen Periode – des 18. und 19. Jahrhunderts –, die dem Wahn erst eine eigene Poesie verliehen. Schiller schrieb über des Schreckens Wahn , Goethe über den kranken Wahn , Schlegel nahm sich den irren Wahn vor, und Herder stellte charmant fest, dass nur der süße Wahn uns alle davon abhält, uns das Leben zu nehmen: »Wer grübe sich nicht selbst sein Grab und würfe froh die Lebensbürde hin, wenn süßer Wahn nicht wäre?«
Andere Dichter schrieben vom Wahn der Freundschaft , von der Verzweiflung Wahn , von des Herzens trunk’nem Wahn , vom religiösen Wahn , dem Liebeswahn , dem Querulantenwahn und dem Verfolgungswahn .
Kein Philosoph grübelte so ausdauernd über den Wahn wie der Ur-Kritiker Kant, dessen Warnung vor der »… Gefahr der Schwärmerei, welche ein Wahn ist, über alle Grenzen der Sinnlichkeit hinaus etwas sehen, das ist nach Grundsätzen träumen (mit Vernunft rasen) zu wollen«, kein Mensch je gefolgt ist, weil nur ein Wahnsinniger sie versteht. Die innige Nähe der Deutschen zum Wahn hat Tradition.
Heute kennen wir Sucht vorwiegend als Anlass, viel Zeit in einer Therapiegruppe zu verbringen. Im Mittelalter galt Sucht noch als das unheilige Werk eines Dämons. In ihrem Deutschen Wörterbuch erklärten es die Gebrüder Grimm so: »Immer handelt es sich darum, dem Gegner durch einen magischen Beschwörungsakt den Krankheitsdämon auf den Hals zu ziehen … mit Formeln wie: Die Sucht soll dich erhaschen, dass dir Haut und Haare abgehen !«
Die Sucht nach Verwünschungen beschränkte sich nicht auf körperliche Gebrechen, und bald gab es mehr Süchte , als es Krankheiten gab. Und das ist das Schöne daran: Während der Mediziner sich auf tatsächliche Krankheiten beschränken muss, kann der Teufel hinter allem stecken, was dem Bedenkenträger auch nur im Entferntesten unheimlich oder gar unangenehm ist. So gibt es fast gar nichts in der deutschen Geschichte, was nicht irgendwann als Sucht verteufelt wurde: Die Sucht , die ganze Nacht im Wirtshaus zu hocken; die Sucht nach dem Fremden; die Sucht nach dem Abnormen und nach Kleinigkeiten; die Sucht , sich anbeten zu lassen; die Sucht , Frauenzimmern zu gefallen; die Sucht nach Neuheiten; die Sucht der Dienstboten, den Herrn zu wechseln; die Sucht , gelehrt sein zu wollen; die Sucht , alles zu beurteilen, was in der gelehrten Welt vor sich geht; die Sucht , zu reimen; die Sucht , Politik zu treiben; die Sucht nach Paradoxien; die Sucht gewisser Schriftsteller, neue Wörter zu bilden; ganz zu schweigen von der Sucht , in einem Text endlos Beispiele aufzuführen.
Knigge wetterte gegen die perfide Sucht an, ein großer Mann sein zu wollen; Jakob Grimm warnte vor der heimtückischen Sucht , »den Ursprung der meisten Wörter aus dem Lateinischen drehen zu wollen«; Goethe meckerte über die krankhafte Sucht , jeden Abend in ein anderes Theaterstück gehen zu wollen, anstatt jeden Abend in dasselbe, nämlich sein eigenes; und Spielhagen warnte vor der gefährlichen Sucht , »sich an den Strand des Meeres zu setzen und
Weitere Kostenlose Bücher