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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waris Dirie
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Essen?«, fragte ich ihn. Er war so abgemagert, dass seine Augen tief eingesunken in seinem Kopf lagen.
    »Sie haben uns eigentlich fast nichts gegeben. Wir bekamen ein bisschen Reis und eine Tasse Wasser zum Waschen.«
    »Oh, Mohammed! Wie bist du da rausgekommen?«
    »Alle waren ständig berauscht, und Onkel hat die Wachen bestochen, sodass sie ein Auge zudrückten. Wenn ich in Somalia geblieben wäre, wäre ich jetzt ein toter Mann. Irgendwie haben Verwandte genug Geld zusammengekratzt, damit ich Mogadischu verlassen konnte, dann bin ich mit einem Transport nach Kismayu an der Südküste gefahren. Dort ist Afweines Stamm nicht so mächtig. Von dort ging es weiter mit einer Dau nach Mombasa und zuletzt mit dem Flugzeug aus Afrika weg.«
    Trotz seiner entsetzlichen Erlebnisse blieb mein Bruder mit Somalia in Verbindung. Wenn jemand mir helfen konnte, dann er. »Mohammed«, begann ich, »ich habe davon geträumt, nach Somalia zurückzukehren.« Das hatte ich ihm schon einmal erzählt, und er glaubte mir nicht.
    »Ja, ja, Frau«, sagte er. »Du warst seit zwanzig Jahren nicht mehr da – warum willst du denn gerade jetzt wieder hin? Du solltest ihnen besser Geld schicken.«
    »Nein, Mohammed, ich meine es ernst. Ich möchte nach Hause, aber ich habe Angst und weiß nicht so recht, wie ich es anstellen soll. Würdest du mir helfen?«
    »Hiiyea«, willigte er ein.
    Hiiyea? Ich hatte gedacht, er hielte mir jetzt einen Vortrag darüber, wie gefährlich es sei und warum ich so etwas riskierte, wo alle anderen nur dort wegwollten. Hiiyea bedeutet in etwa ‘Ich höre dich’. Mir war so, als zündete jemand im Dunkeln ein Streichholz an. »Glaubst du, die Reise ist nicht zu gefährlich? Glaubst du, ich finde jemanden wieder, den ich kenne? Ich habe seit Jahren kein Somali mehr gesprochen«, plapperte ich nervös und aufgeregt drauflos.
    1995 hatte ich zugestimmt, für die BBC in einem Dokumentarbericht mitzuwirken, weil man mir helfen wollte, meine Mutter aufzuspüren. Ich konnte dann tatsächlich drei Tage mit ihr in Galadi (Äthiopien) nahe der somalischen Grenze verbringen. Nach Somalia einzureisen war mir allerdings zu gefährlich. Schon damals hatte ich bereits Mühe mit der Sprache gehabt.
    Mein Traum von der Heimkehr nahm Gestalt an. Ich wollte unbedingt zurück, und Mohammed willigte ein, mich zu begleiten, wenn ich für ihn zahlte. Da er nur eine kleine Unterstützung von der Regierung bekommt, kann er sich eine solche Reise nicht leisten. Er spricht hervorragend Somali, für den Fall, dass mir einiges nicht mehr einfallen würde. Ich fühlte mich sicher mit meinem Bruder und konnte Aleeke bei seiner Frau und den Kindern in Amsterdam lassen. Schon in der nächsten Woche buchte ich, damit sich nicht alles wieder einmal änderte und die Tür für immer zuschlug. Als Mohammed sagte, wir könnten auch meinen Vater besuchen, bekam ich feuchte Handflächen. Allein der Gedanke an meinen Vater jagte mir Angst ein, obwohl so viele Jahre vergangen waren. Mohammed hatte auch Angst. Er war knapp mit dem Leben davongekommen, und die Erinnerungen an Mogadischu quälten ihn immer noch. Es hatte Jahre gedauert, bis er in Holland als Flüchtling anerkannt war; trotzdem durfte er weder zur Schule gehen noch arbeiten. Für ihn gab es nur Warten. Er suchte genauso nach sich selbst wie ich.
    An diesem Nachmittag rief ich Oprahs Mitarbeiterin an und erklärte ihr, ich müsse leider absagen, weil ich während der Aufzeichnung der Sendung in Somalia sei. Zudem wollte ich nicht so tun, als hätte ich eine wunderschöne Seele, während in Wirklichkeit an der Stelle meines Herzens ein Loch gähnte.
    Nachdem ich die Entscheidung endgültig getroffen hatte, zu meiner Familie zu reisen, geriet ich in Panik. Meine Tanten und Cousinen waren richtige somalische Frauen, sie trugen keine engen Hosen und T-Shirts oder eine Baseballkappe. In London hatte ich all meine zerlumpten Kleider weggeworfen, wie bei einer Häutung. Jetzt wollte ich meine Herkunft wiederhaben. Ich rannte durch ganz Manhattan, fand aber keine somalischen Gewänder oder
dirah
. Sie sind bodenlang, damit man die Beine nicht sieht, und aus einem dünnen, luftigen Stoff. Die Tücher sind mit Blumen bedruckt oder einen bunten, geometrischen Muster und einfarbig. Man misst den Stoff am ausgestreckten Arm bis zur Nase. Die Dorfschneider mit ihren fußbetriebenen Nähmaschinen nehmen die Meterwaren, falten sie einmal in der Länge zusammen und schneiden ein rundes Loch für den Hals

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