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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waris Dirie
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ältere Männer den ganzen Nachmittag über da und rissen kleine grüne Blätter von
khat
-Ästen, während sie über Politik und andere Themen diskutierten. Sie zerkauten die Blätter zu einer Art Paste, die sie so lange im Mund sammelten, bis sie ganz dicke Wangen hatten. Die Zähne wurden schwarz davon. Ich habe nie begriffen, was man daran findet. Es schmeckt nicht gut und sieht auch nicht besonders schön aus. Ständig läuft einem grüner Saft aus den Mundwinkeln. Mohammed schmuggelte
khat
aus dem Hochland von Äthiopien und Kenia, wo es wächst, ins Land und verkaufte es an die Armee.
    Bei halbwüchsigen Jungen in der Armee galt
khat
als schick. Wenn sie die Droge gekaut hatten, wurden die Soldaten immer erregter und irrationaler. In den ersten beiden Stunden nach dem Genuss von
khat
fühlt man sich glücklich; später jedoch wird man deprimiert und müde, kann aber nicht schlafen.
    Einmal kam mein Onkel Achmed in den frühen Siebzigerjahren aus Gelkayo, um nach seinen Kamelen und Ziegen zu sehen. Er wirkte erregt und redete lange mit meinem Vater. Meine Mutter und ich flochten in der Nähe Stricke aus Kamelhaut und hörten ihnen zu.
    »Siad Barres Soldaten halten Ausschau nach kleinen Jungen.«
    »Was wollen sie mit ihnen?«
    »Sie bringen jeden, den sie finden können, an einen Ort, um sie dort als Soldaten auszubilden. Glaub mir, sie haben schon viele Kinder entführt! Es wird einen Krieg mit Äthiopien geben, wegen des Ogaden, das sie uns weggenommen haben. Ich will nicht, dass meine Söhne kämpfen, sie sind noch zu klein. Deshalb verstecke ich sie.«
    »Woher kriegen sie denn die Gewehre? Wer gibt einem kleinen Jungen wohl ein Gewehr?«
    »Afweine, das Großmaul (Siad Barre), bekommt von überallher Geld! Italien, die Vereinigten Staaten, Deutschland, Russland und China geben ihm Geld, und er kauft damit die Ausrüstung für seine Armee. Waffen hat er genug – nur Soldaten braucht er noch.« Onkel trank einen Schluck Tee und spuckte aus. »Ich habe das schon von vielen Verwandten gehört«, warnte er. »Unsere Söhne verschwinden auf einmal, wenn sie mit ihren Kamelen im Busch sind. Die Soldaten entführen sie für die Armee und nehmen die Tiere gleich mit.«
    Als er weg war, überlegten meine Eltern, ob sie ein Loch graben und meine Brüder darin verstecken sollten. Schließlich schickte mein Vater die Jungen zu Verwandten im Norden und brachte mir bei, ihm bei den Kamelen zu helfen. Ich war stolz und entschlossen, meine Aufgabe gut zu machen, da sonst nur männlicher Nachwuchs sich um die Kamele kümmern durfte.
    Alle paar Tage ging ich mit den Tieren zu einem Brunnen. Den Weg dorthin hatte mein Vater mir gezeigt. Sie lagern kein Wasser in ihren Höckern, sondern eine Art Fettvorrat, von dem sie sich ernähren. Das Leitkamel kannte den Weg, und die übrigen trotteten dem Klang seiner hölzernen Glocke nach. Ich trug eine Ziegenhaut, aus der meine Mutter einen flachen Eimer mit einem langen Seil genäht hatte, damit ich das Wasser aus dem Brunnen schöpfen konnte. Eines Tages war der Weg versperrt – von Armeezelten und Jeeps. Mir blieb das Herz stehen, weil ich wusste, dass sie Mädchen vergewaltigten und die Tiere stahlen. Ich kletterte auf einen kleinen Hügel und schlich mich näher heran, um die Soldaten zu beobachten, die mit ihren langen Gewehren herumstolzierten. Hinten auf den Lastwagen lagen große Maschinengewehre. Die Kamele ließ ich allein weitergehen, aber sie hatten Angst vor dem Lärm und den fremden Gerüchen. Sie machten einen großen Bogen um das Lager, und ich hoffte, sie würden alleine zum Wasserloch finden. Ich kroch an dem Lager vorbei auch dorthin, damit die Soldaten mich nicht entdeckten. Dann schöpfte ich Wasser für die Kamele und schlich mich im Dunkeln wieder zurück nach Hause.
    Dann beschloss mein reicher Onkel, aus Mogadischu wegzuziehen. Er sagte, in der Stadt ginge alles drunter und drüber. »Alle Leute leben vom Bakschisch, von Bestechungsgeldern und Raub«, berichtete er meinem Vater. »Mogadischu ist voller
muryaan
, Straßenkindern, die nur Ärger machen.«
    »Vom Hunger getriebene Menschen ohne Ehre tun alles, um etwas zu essen zu bekommen«, warf mein Vater ein.
    »Sie haben kein Heim und kein Einkommen. Wir haben die Stadt jedenfalls verlassen, und ich will nie wieder zurück. Die Regierung ist nur auf ihre eigenen Vorteile bedacht, und es gibt nirgendwo mehr Sicherheit.«
    Der Krieg mit Äthiopien begann im Jahr 1974, und von da an war Somalia vom

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