Nomadentochter
ich überleben –, waren immer noch da. Sie steckten tief in meinem Herzen. Aber vor lauter Reisevorbereitungen kam ich auch jetzt nicht zum Weinen.
Männer schützen einander die Flanken,
So werden sie Brüder.
Sollen wir einander helfen
oder uns fern halten voneinander?
(Somalisches Arbeitslied)
4
Unterschiede
Die Frau im Büro von American Express teilte mir mit, dass ich das Ticket nach Amsterdam einundzwanzig Tage vorher kaufen könnte oder dass ich am Dienstag oder Mittwoch fliegen und dann an einem Mittwoch oder Donnerstag inklusive einer Wochenendübernachtung zurückkommen könnte. Wie sollte das denn gehen? Und warum überhaupt? Ich erklärte ihr: »Mein Bruder hat herausgefunden, wo meine Mutter ist, aber möglicherweise zieht sie auch wieder weiter; wenn ich hinwill, muss ich die Reise sofort antreten.«
Die Frau starrte mich an, als sei ich ein seltenes Insekt. Als ich hereingekommen war, fiel mir als Erstes eine riesige Handtasche auf ihrem Schreibtisch ins Auge. Sie nahm eine große Flasche Lotion heraus und rieb sich die Hände ein, als ich mich setzte. Es ist mir ein Rätsel, warum Frauen den ganzen Tag eine halbe Apothekenausstattung mit sich herumschleppen. Alles Dinge, die völlig unwichtig sind. So jemand könnte einen Nomaden nie verstehen, deshalb sagte ich: »Ich brauche zwei Tickets für nächste Woche, ein Erwachsener und ein Kind.« Als sie sich nach dem Datum des Rückflugs erkundigte, ging ich ins Detail: »Ich fliege von Amsterdam nach Somalia und kann jetzt noch nicht sagen, ob wir es überhaupt bis dorthin schaffen, geschweige denn zurück. Wenn Gott will, geht alles gut, und wir kommen heil wieder.«
Sie riss die Augen auf: »Was? Sie fliegen nach Somalia?«
»Ich versuche es jedenfalls«, erwiderte ich. »Meine Mutter lebt da.«
Ihr Blick wurde weicher, und sie nickte mir zu. Dann erklärte sie mir, sie müsse ein Datum für den Rückflug einsetzen, weil sonst die Tickets teurer würden. Außerdem meinte sie, ich könnte Probleme mit der Einwanderungsbehörde bekommen, wenn ich keinen Rückflug angäbe; deshalb buchte ich den Rückflug, kurz bevor ich eine Konferenz bei der UNO hatte. Ich bezahlte die Tickets mit Kreditkarte und sagte, ich wolle diese elektronischen Dinger nicht, bei denen man nichts in der Hand hat. Denn dann behaupteten sie manchmal beim Einchecken, sie fänden keine Daten. Ich wollte ein richtiges Ticket, das ich am Flughafen vorzeigen konnte.
Sie lachte und bekannte, dass es ihr genauso ginge.
Wir flogen Dienstagabend, und nachmittags rief ich Mohammed an, um ihm Bescheid zu sagen, wann er uns abholen sollte. Er konnte es immer noch nicht fassen und sagte: »Wirklich? Ich glaube es erst, wenn ich euch am Gate sehe.« Ich versicherte ihm jedoch, dass wir bereits auf dem Weg zum Flughafen seien.
Aleeke benahm sich mustergültig in der Maschine, und ich war stolz auf ihn. Wie ein kleiner Mann saß er da, sah sich die Leute an oder malte. Er ist ein Nomade wie ich, fliegt oder fährt gerne irgendwohin – auch wenn er dabei nicht so herumspringen kann, wie er das sonst den ganzen Tag tut. Fröhlich aß er das abgepackte Essen mit einer Plastikgabel und spielte mit den Kopfhörern. Als er zur Toilette musste, stand er auf und wackelte den Gang entlang, wie alle anderen auch. Mein Kind ist ein moderner Nomade.
Während er neben mir im Flugzeug saß, konnte ich deutlich seinen Scheitel sehen. Er hat eine Hautkrankheit, und ich hatte noch nicht herausbekommen, woran es lag. Seine weichen Haare fielen in Büscheln aus, und darunter waren entzündete Stellen, teilweise auch mit Eiter gefüllt. Ich versuchte alles Mögliche: Ich nahm reines Eukalyptusöl sowie ein bisschen Wasser und verrieb es auf der Kopfhaut. Ich zermahlte Oregano zu einer Paste und rührte eine Salbe aus Honig mit Myrrhe an. Als alle pflanzlichen Medikamente nichts nützten, ging ich mit ihm zu einem Kinderarzt, aber er sagte nur: »So etwas haben Kinder häufig.« Er verschrieb mir eine helle, klebrige Creme, aber auch davon wurde es nicht besser. Die weißen Stellen blieben. Mein Kind hatte eine unangenehme Krankheit, und ich war machtlos dagegen.
Dhura, Mohammeds Frau, kannte ich noch nicht. Ich hatte Mohammed das letzte Mal gesehen, als er aus Mogadischu nach Amsterdam geflohen war, damals noch Junggeselle. In den letzten beiden Jahren hatte ich mit ihr häufig telefoniert und das Gefühl, sie sei eine gute, liebevolle Frau. Sie hielt den Familiensinn meines Bruders wach. Als wir
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