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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waris Dirie
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Bürgerkriegsgeschehen und später von Hungersnöten gepeinigt. Erst 1991 waren Barres Streitkräfte besiegt, und die Oppositionellen kontrollierten Teile von Mogadischu. Aber sie brachten keine Einigung zu Stande, wer Präsident sein sollte, und dies führte zu Kämpfen zwischen den Stämmen.
    Kurz nach dem Besuch meines Onkels lief ich von zu Hause weg und gelangte auf Umwegen nach London. Es gab nur selten Nachrichten von meiner Familie, und bald hörte ich gar nichts mehr. Im Dezember 1992, kurz nachdem ich wegen meiner Karriere als Model von London nach New York gezogen war, brachte ein Freund mir eine Ausgabe des Sonntagsmagazins der
New York Times
mit. Ich konnte die Bilder kaum ertragen. Eine Hungersnot hatte mehr als hunderttausend Menschen dahingerafft. Und sie war nicht durch eine Dürre entstanden – sondern auf Grund des Bürgerkriegs, nachdem man Siad Barres Regime gestürzt hatte. Jetzt gab es keine Regierung mehr, und terrorisierende Banden beherrschten das Land. Niemand konnte mehr etwas anbauen, und die meisten Tiere hatten sie gestohlen. In dem Magazin befanden sich Schwarzweißfotos von verhungernden Menschen. Die Hilfsorganisationen konnten den Hungernden nichts zu essen liefern, weil Banditen die Nahrungsmittel, die für Frauen und Kinder bestimmt waren, plünderten. Die Bilder zeigten weinende Kinder mit eingesunkenen Augen und spitzen Wangenknochen. Eine Frau lag zusammengesunken mitten auf der Straße. Ich habe gehört, dass in diesen schrecklichen Jahren jedes vierte Kind starb. Die Kleinen und Schwachen litten natürlich am meisten. Was mit meiner Familie geschehen war, konnte ich nicht herausfinden. In der Zeitung stand: »Glücklich sind diejenigen, die in diesem vom Krieg, Dürre und Hungersnot heimgesuchten Land gestorben sind.« Das Fernsehen berichtete über die verzweifelten Bemühungen, der bewaffneten, marodierenden Soldaten in den Städten Herr zu werden.
    Eine Million Somalis floh aus dem Land, und einer jener Glückspilze, die entkamen, war mein Bruder Mohammed. Er rief mich an, als er in Amsterdam eintraf. Ich freute mich so sehr über sein Lebenszeichen, dass ich sofort hinflog.
    Als ich Mohammed sah, erkannte ich diese klapperdürre Gestalt kaum wieder. Seine Unterlippe war bis auf den Kieferknochen gespalten, weil er so lange ohne Wasser hatte auskommen müssen. Unter seinem Hemd zeichneten sich seine Schlüsselbeine ab, und er sah aus, als sei etwas in ihm gestorben oder leer. Ich umklammerte ihn. »Mohammed, was ist geschehen, wo bist du gewesen?« Mein Bruder wirkte verängstigt.
    »Monatelang haben sie uns hinter Stacheldraht eingesperrt – uns nicht genug zu essen und zu trinken gegeben.«
    »Aber warum denn nur?«
    »Waris, es war eine verrückte Zeit. Den ganzen Tag über haben die Soldaten getrunken und
khat
gekaut, zum Frühstück, zum Mittagessen und zum Abendessen. Sie haben sich ständig gestritten und nur so aus Spaß mit ihren Gewehren herumgeballert, wenn sie durch die Stadt fuhren.
    »Hiiyea.« Ich war fassungslos über Mohammeds Bericht.
    »Gegen Abend waren sie betrunken und berauscht – Nüchternheit erregte bei den Offizieren Verdacht. Wenn man nur sagte: ‘He, leise! Dort drüben sind Leute!’, haben sie einen schon wieder angebrüllt. Die Armee war es gewöhnt, Entscheidungen der Regierung mit Druck durchzusetzen, Diskussionen kamen nicht in Frage. Die Regierung erklärte, Frauen hätten das Recht, Besitz zu erben; aber viele Sheiks protestierten, weil es gegen die islamische Tradition war. Zehn Sheiks wurden direkt in ihren Moscheen von Afweines privaten Truppen hingerichtet. Wer gegen den Mord an den religiösen Führern demonstrierte, wurde auf der Straße niedergemacht. Soldaten erschossen und vergewaltigten Frauen und Mädchen aus reiner Tollheit!«
    In den nächsten Tagen erzählte Mohammed, wie Afweine schließlich jeden aus den Stämmen der Mijertein, Howiye oder Issaq verdächtigte. Er holte sich Mitglieder aus seinem eigenen Stamm, den Mareehan, in den Obersten Revolutionsrat, und sie gehorchten ihm blindlings. Eines Nachts beschuldigten sie meinen Bruder, er sei dem Präsidenten gegenüber nicht loyal genug, und er wurde ins Gefängnis geworfen.
    »Sie verfolgten jeden von den Mijertein; eines Nachts zerrten sie mich aus dem Bett, schlugen mich zusammen und ketteten mich über eine Woche lang in einem dunklen Raum an. Keine Verhandlung, nichts – einfach nur Willkür!« Mohammed wollte am liebsten gar nicht darüber reden.
    »Und das

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