Nonnen
Stadt
seiner Wünsche.
Über Nacht war es kalt geworden. Der Nebel war dem Frost
gewichen, und die letzten Sterne der Morgendämmerung
glitzerten im blauenden Himmel. Autos rasten wie verrückte
Tiere umher und stachen mit ihren Lichtstacheln in die
Dämmerung. Menschen, die aus grauen Träumen erwacht
waren, suchten ihren Weg. Sie alle schienen die Stadt in sich zu
tragen – nicht diese Stadt, in der sie sich bewegten,
sondern jene, die alle Träumer zunächst flohen, bis sie
dann reumütig und zu Tode erschöpft zu ihr
zurückkehren wollten. Die Menschen der grauen, tristen,
lauten, feindlichen Stadt wußten nicht einmal, wie
glücklich sie waren. Sie alle waren auch Kinder jener
anderen Stadt, nur er, der verlorene Sohn, durfte nicht
heimkehren. Er stand an einer Straßenkreuzung neben einem
überquellenden Müllbehälter und weinte. Gab es
denn niemals eine Hoffnung für ihn?
»Es gibt keinen Ort, wo du hingehen kannst, keinen Ort,
an dem du sicher bist, vor allem liegt dieser Ort nicht in deiner
Phantasie«, hörte er plötzlich eine Stimme neben
sich. Sie war so leise, als dränge sie durch einen dichten
Vorhang. Als er sich umdrehte, um zu sehen, wer da gesprochen
hatte, erblickte er einen dahinhastenden hageren Mann mit einem
unglaublich langen Schädel. Die Gestalt verschwand in einem
Hauseingang. Neuer Mut durchpulste ihn, und er lief zu diesem
Hauseingang.
Die Tür war wie zu einer Einladung geöffnet.
Dahinter brannte eine Flurbeleuchtung und zeigte eine breite,
kurze Treppe, die von Zeitungsresten, Flaschen, Dosen und anderen
Abfällen übersät war, die zu einer amorphen Masse
zusammengebacken waren. Schnell huschte er in den Hauseingang,
setzte über den Abfall hinweg und stand vor einer offenen
Wohnungstür. Bevor er einen Schritt über die Schwelle
tun konnte, hörte er wieder die leise, undeutliche Stimme.
Er strengte sich sehr an, um zu verstehen, was sie sagte:
»Der Weg liegt offen vor dir. Er lag immer offen vor dir.
Sieh dich vor und prüfe dich, denn du kannst nicht wieder
zurückkehren. Du wirfst etwas fort, wonach sich alle anderen
sehnen.«
›Nein‹, wollte er schreien, ›ich will wie
alle anderen sein!‹ Aber er brachte nur ein Krächzen
über die ausgetrockneten Lippen. Und er überschritt die
Schwelle.
Es war nichts als eine gewöhnliche Wohnung. Draußen
hörte er Schritte, die sich langsam entfernten. Er lief zum
Eingang zurück und sah gerade noch, wie eine schmale Gestalt
aus der Haustür trat und auf der grauen Straße
verschwand. Es war nicht der Mann mit dem grotesken Schädel
gewesen. Nein, die Gestalt hatte so – entsetzlich vertraut
ausgesehen; aber schließlich hatte er das Gesicht nicht
erkennen können. Jede Bewegung war ihm bekannt vorgekommen.
Er kehrte zurück in die Wohnung und suchte nach etwas, wovon
er nicht wußte, was es sein mochte.
Alle Zimmer waren leer. Waren sie vorhin auch schon leer
gewesen? Er konnte sich nicht mehr erinnern. Als er seinem
Gefühl zufolge lange Stunden ergebnislos in der leeren
Wohnung verbracht hatte, ging er wieder nach draußen. Es
war dieselbe graue Straße wie vorhin, die trotz des
Sonnenscheins rußig und schmierig wirkte. Er lief sie
entlang, bis er plötzlich in einiger Entfernung vor sich ein
Loch in der gleichförmigen Bebauung bemerkte. Aus diesem
Loch kroch Grün hervor. Gleichzeitig bemerkte er, daß
niemand mehr auf der Straße war, kein Passant, kein Auto.
Und die Häuser waren nichts anderes als Ruinen, verkohle
Reste, Schalen. Die Fensterscheiben waren eingeschlagen und
ragten wie staubige Zähne aus den verfaulenden Rahmen. Er
ging schneller.
Dort zwischen den Häusern, wie ein Geschwür, ragten
kranke Bäume aus einer struppigen Wiese hervor. Es war der
Ort, den er kannte und gesucht hatte. Sein Herz raste vor Freude.
Da kam er an dem letzten Haus vorbei, und im Splitter einer
Fensterscheibe sah er sein eigenes Bild.
Da wußte er, daß jede Freude ihm auf ewig
verschlossen bliebe. Er hatte alles verloren, was er noch
besessen haben mochte, so wie es die Stimme angedeutet hatte.
Denn was er in dem Scheibensplitter für einen Augenblick
sah, war nichts anders als der Kragen eines verschlissenen
Mantels und ein grotesk hoher und schmaler Schädel mit einer
speckigen Kappe darauf.
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