Nora Morgenroth: Der Hüter
ich keine Erklärung. Schließlich besaß ich kein Bedienungshandbuch für meine Gabe. Es war, wie es war und ich konnte die Umstände ebenso wenig ändern wie meine Augenfarbe.
Seit damals war mir nichts dergleichen mehr zugestoßen. Dafür war ich dankbar. Überhaupt war ich höchst zufrieden mit meinem Leben, wie es im Moment war. Mir fehlte nichts. Über die Scheidung von Daniel war ich seit langem hinweg. Von seiner zweiten Frau hatte er sich inzwischen getrennt. Das war dann wohl doch nicht so das Wahre gewesen mit den beiden. Das gemeinsame Kind sah er regelmäßig, da sie nicht weit auseinander wohnten. Ich traf Daniel gelegentlich auf einen Kaffee und wenn Oliver und ich Gäste hatten, dann luden wir ihn auch ein. Man konnte sagen, dass wir tatsächlich so etwas wie Freunde geworden waren, wenn auch nicht sehr enge. Es gab weitaus wichtigere Menschen in meinem Leben. An erster Stelle standen jetzt Oliver und natürlich Hedda und neuerdings meine entzückende kleine Nichte Viola. Und Frank, der Violas Papa und Heddas Lebensgefährte war. Und natürlich Bille und Franka.
Vielleicht sollte ich noch meine Mutter erwähnen, Ursula Morgenroth, aber wir sahen uns nicht sehr oft. Das war in Ordnung so für mich und vermutlich besser für alle Beteiligten. Vielleicht würde ich eines Tages eine Therapie machen und ergründen, ob ich meiner Mutter nicht doch endlich verze ihen konnte, dass sie nicht die warmherzige Mutter gewesen war, die ich mir immer gewünscht hatte. Jetzt war ich erwachsen und brauchte sie nicht mehr – oder vielleicht doch, aber wenn es so war, dann zog ich es vor, dieses Bedürfnis zu unterdrücken, vermutlich aus Angst vor erneuter Enttäuschung. Doch solange wir uns nur alle paar Monate trafen und auch nicht viel häufiger telefonierten, gab es zwischen Mutter und mir keine Reibungspunkte.
Nein, so wie es war, war alles gut. Der größte Clou in meinem neuen Leben war natürlich der Vertrag für mein erstes Buch. Dank Billes Hartnäckigkeit war der Roman im Dezember erschienen. Ein Bestseller war daraus bis jetzt noch nicht geworden, aber darauf kam es mir nicht an. Allein das Gefühl, als ich das erste gedruckte Exemplar in den Händen hielt, war unbeschreiblich gewesen. Es erfüllte mich mit eben soviel Stolz wie Ungläubigkeit. Aus der Nora Morgenroth, die noch vor wenigen Jahren eher ziellos durch das Leben gestolpert war, war eine richtige Autorin geworden!
Oliver ermutigte mich, weiter zu schreiben. Er meinte, dass ich zweifelsfrei Talent hätte und es schade fände, wenn ich meine Zeit hinter einem Ladentisch vergeudete. Obwohl wir nicht verheiratet waren, hatten wir, sobald wir zusammen gezogen waren, ein gemeinsames Bankkonto eingerichtet. Olivers Gehalt und meine, wenn auch bisher noch bescheidenen Tantiemen aus den Buchverkäufen, flossen dort zusammen. Wir trafen alle finanziellen Entscheidungen gemeinsam und Oliver hatte mir bisher niemals das Gefühl gegeben, dass mein Wort weniger zählte, nur weil ich ein geringeres Einkommen hatte als er. Ich hatte nicht einmal das Gefühl, ihm besonders dankbar sein zu müssen für seine Großzügigkeit. Das war fast das Beste daran. Geld war einfach kein Thema für uns.
Oliver wollte nur, dass ich glücklich war und meine Arbeit ebenso liebte wie er seine. Und das tat ich inzwischen. Ich arbeitete mit Begeisterung an dem neuen Buchprojekt. In den letzten Tagen war ich gut vorangekommen. Wenn ich einige Stunden geschrieben hatte, bereitete ich mir mittags meistens eine Kleinigkeit zu essen zu. Danach stürzte ich mich in die Renovierungsarbeiten. Wenn mir nichts einfiel oder ich mit meiner Geschichte irgendwie steckengeblieben war, dann zog ich gleich morgens eine alte Jeans an und griff nach Hammer, Spachtel oder Tapetenkleister. Die körperliche Arbeit stellte einen schönen Ausgleich dar und nützlich war sie auch. Es verlieh mir ein Gefühl von außerordentlicher Befriedigung, wenn ich eine Wand zu Ende verspachtelt hatte oder ein Stück Treppengeländer von seiner alten, abblätternden Farbe befreit war.
Früher hatte ich mich eher für unpraktisch veranlagt gehalten, aber offenbar hatten diese Talente nur in mir geschlummert, wie die Lust am Schreiben.
Ich wandte mich vom Fenster ab, nahm die Teekanne und einen Becher und trug beides hinauf in mein Arbeitszimmer. Oder eher gesagt, den Raum, der einmal mein Arbeitszimmer werden sollte. Wir hatten uns vorgenommen, ein Zimmer nach dem anderen zu renovieren. Das meiste davon
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