Nora Morgenroth: Der Hüter
ich nicht zehn Kopien angefertigt und samt Exposé an mehrere Verlage geschickt hatte.
Natürlich hatte ich nicht die wahre Geschichte aufgeschrieben. Meine Geschichte. Von dem Unfall, von Marcs Tod und meiner Gabe, die ich bald darauf entdeckt hatte. Und von Yasmines Fall, in dem Oliver ermittelt hatte. Damals war er für mich natürlich noch nicht Oliver gewesen, sondern Kriminalhauptkommissar Lüdke.
Nein, der Roman, der am Ende aus meiner Schreibwut hervorgegangen war, handelte nicht von mir. Irgendwie schon, natü rlich, aber niemand wusste das außer uns. Vordergründig ging es um einen Familienvater, dessen kleiner Sohn ertrinkt, während er eigentlich auf ihn aufpassen soll. Die Mutter des Kindes verlässt den Vater. Dieser bleibt allein zurück, um die entscheidenden Minuten seiner Unaufmerksamkeit wie in einer Endlosschleife immer wieder erleben zu müssen. Es hat den Anschein, als würde sein Leben ohne den Sohn nicht weitergehen. In einer Weise tut es das auch nicht, denn er altert nicht. Um ihn herum werden Häuser gebaut oder abgerissen, die Nachbarkinder werden erwachsen und ziehen fort. Nur für ihn bleibt immer alles gleich. Viele Jahre später – der Vater müsste inzwischen ein alter Mann sein, aber er hat sich nicht verändert - erblickt er mitten auf der Straße einen Jungen, der aussieht wie sein verstorbener Sohn. Das Kind verschwindet in einem Gebüsch und der Vater folgt ihm und beide treten durch eine geheimnisvolle Tür. Fortan gibt es für den Vater zwei Wirklichkeiten, einmal die reale Welt und dann jene hinter der Tür, in der es nur ihn und seinen Sohn gibt. Je länger er sich in einer der beiden Welten aufhält, umso unerreichbarer wird die andere Welt für ihn. Er muss sich also entscheiden, ob er in der realen Welt leben will oder ob er die andere wählt, in der es nur sie beide gibt …
Mittlerweile schrieb ich an meinem zweiten Buch und lebte mit der Gabe, wie meine Großmutter das genannt hatte, ein ganz normales Leben. An und für sich und wenn man einmal davon absah, dass meine Großmutter ebenso wie mein Vater seit vielen Jahren tot waren und dennoch mit mir sprachen.
Nach dem Unfall hatte alles damit angefangen, dass ich die Stimmen von Verstorbenen gehört hatte. Wie man sich unschwer vorstellen kann, hatte dieses Phänomen mich zunächst beinahe zu Tode erschreckt. Inzwischen war viel Zeit vergangen, ich hatte ich mich mit meiner besonderen Fähigkeit abgefunden. Nein, das war nicht der richtige Ausdruck, man konnte eher sagen, dass ich sie angenommen hatte. In gewisser Weise war ich sogar dankbar. Meine Gabe spendete mir Trost und die Gewissheit, dass nach dem Tod nicht alles vorbei sein würde, es gab mehr als die sogenannte reale Welt.
Manchmal träumte ich oder vernahm von irgendwoher Worte, die ich nicht zuordnen konnte. Und es war schon vorgekommen, dass ich den Tod eines anderen Menschen – nun, nicht vorausgesehen, aber doch vorausgeahnt hatte. Es war kein Wissen im eigentlichen Sinne, eher eine Mischung aus körperlicher und geistiger Empfindung. Wie Hunger oder Liebe. Ich spürte es einfach, obwohl man es weder sehen noch anfassen noch beweisen konnte.
N icht immer war eindeutig, woher meine Visionen stammten, die sich im Traum oder auch im wachen Zustand zwischen mich und die normale Wahrnehmung meiner Umwelt schoben. Manchmal dachte ich, dass es sich mit meiner Gabe in etwa so verhielt wie mit einem Empfangsgerät. Meine Sensoren waren einfach empfindlicher als die der meisten anderen Menschen. Ich empfing Stimmen, vielleicht auch Gedanken, Träume, Erinnerungen wie Radiowellen. Das war alles. Wenn ich mir die Gabe auf diese Weise selbst erklärte, dann erschien sie in einem alltäglicheren Licht. Ich war ein empfindlicher Transistor. Das war etwas, womit ich gut leben konnte. Doch meistens versuchte ich, mich davon nicht irritieren zu lassen, was mir ganz gut gelang, es war in etwa so, als wenn man beispielsweise in einer voll besetzten Bahn sitzt: Man nimmt die Gespräche der Mitreisenden wahr, ohne immer genau hinzuhören. Man kann das gar nicht alles aufnehmen und will es auch nicht. So in etwa verhielt es sich wohl mit den Stimmen, die ich hörte.
Es war jedoch nicht so, dass ich mir das aussuchen konnte, mit wem ich in Kontakt trat. Nach Yasmines Fall hatte Franka mich gebeten, ob ich zu einem alten Freund Kontakt aufnehmen konnte, der vor einigen Jahren gestorben war. So sehr ich mich für sie bemüht hatte, es war mir nicht gelungen. Dafür fand
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