Nora Morgenroth: Der Hüter
keiner redet ihm hinein. Keiner sperrt ihn ins Loch.
Mit einem Mal fühlt er sich besser. Er grinst, denn jetzt ist er zufrieden mit der Entscheidung. Er kann doch jederzeit ein neues holen. Oder etwa nicht? Es ist doch so leicht gegangen.
Also, was soll das dumme Geheule. Vielleicht wäre Papa sogar stolz auf ihn, dass er das tut? Was er sich jetzt alles traut? Würde er die Hand auf seine Schulter legen und sagen, so ist es recht, Sohn? Sei gehorsam, dann muss ich dir nicht wehtun. Ja, Papa.
Er schließt die Augen und greift blind zu. Am Gewicht des Griffs in seiner Hand kann er seine Wahl erkennen. So soll es nun sein. Er öffnet die Augen und setzt entschlossen zum ersten Schnitt an.
EINS
Der Aufschrei riss mich aus dem Schlaf. Ich schlug in wilder Panik um mich. Licht, ich brauchte Licht. Es war so entsetzlich dunkel. Wo war ich, warum gab es keinen Lichtschalter? War ich etwa in das Loch gefallen, das sich eben noch wie ein schwarzer Schlund vor mir aufgetan hatte? Einen Aufprall hatte ich nicht gespürt, aber es war so schrecklich dunkel. Entsetzt keuchte ich auf.
« Nora, was ist denn?»
Das Licht ging an. Ich setzte mich auf und blickte um mich. Alles war gut. Oliver war da. Ich erkannte ihn und den Schrank und die Kommode und die Decke, die zusammengeknüllt zu meinen Füßen lag. Ich musste sie weggestrampelt haben, aber es war eindeutig meine Bettdecke und wir lagen in unserem wunderschön verschnörkelten Bauernbett. Es war antik, sehr groß und mit außergewöhnlichen Schnitzereien versehen. In wochenlanger, mühseliger Arbeit hatte ich es abgeschliffen und neu lasiert. Dies war unsere erste gemeinsame Nacht in dem alten, neuen Möbel und wir hatten es am gestrigen Abend würdig eingeweiht. Alles war genau so, wie es sein sollte. Es war nur ein böser Traum gewesen. Sehr, sehr böse.
Ich ließ mich auf das Kissen zurücksinken. Oliver zog die Decke über mich. Das alte Shirt, das ich zum Schlafen trug, war durchgeschwitzt. Ich fror.
« Was ist denn?», wiederholte er.
« Nur ein dummer Traum», murmelte ich und lehnte den Kopf an Olivers Schulter.
« Du hast laut geschrien!»
Ich zuckte zusammen. Eigentlich hatte ich angenommen, dass der Schrei in de m Traum vorgekommen war. Jemand hatte doch gequält aufgeschrien. Vielleicht sogar ein Tier? In höchster Not, der Schrei, kaum menschlich.
Aber so war es ja manchmal. Der Wecker klingelte und im Traum meinte man dann, dass es an der Tür läutete. Wenn ich im Schlaf geschrien hatte, dann hatte der reale Schrei sich in meine Traumbilder geschlichen. Die Augen fielen mir zu und ich spürte, wie ich erneut versank. Morgen konnte ich immer noch darüber nachdenken, ich war müde, einfach zu müde.
Am nächsten Tag war alles vergessen. Der nächtliche Alptraum mochte noch so entsetzlich gewesen sein, sobald der helle Tag übernommen hatte, war alles wie fortgewischt. Zum Glück. Lediglich ein vages Gefühl von Erschöpfung war geblieben und legte sich wie ein leichter Dunst über alles. Dämpfend. Wie es eben war, wenn man nicht gut geschlafen hatte. Mehr nicht. Nichts, was dem Grauen der nächtlichen Bilder nahe kam.
Unser Wecker in Form von Olivers Handy weckte uns aus einem unerfindlichen Grund zu spät. Wir mussten uns beeilen oder eher: Oliver musste es tun , denn obwohl es ein Sonntag war, wurde er zum Dienst erwartet. Das war oft so, bei der Kriminalpolizei gab es so etwas wie geregelte Arbeitszeiten nicht. Dennoch stand ich mit auf und bereitete ihm eine Tasse Kaffee, während er hastig duschte und sich anzog. Der Tee, den ich für mich selbst aufgesetzt hatte, war noch zu heiß, als Oliver mir einen eiligen Kuss auf die Lippen pflanzte und das Haus verließ.
Ich trat an das Küchenfenster und sah ihm nach, als er über das viel zu hohe Gras hinüber zum Wagen schritt. Bevor er einstieg, drehte Oliver sich um und blickte zu dem Fenster, an dem ich stand. Wie eigentlich immer, wenn er zur Arbeit fuhr. Es war ein kleines Ritual. Wir hoben gleichzeitig die Hand. Ich lächelte. Oliver stieg ein. Der Wagen wendete und verschwand hinter dem dichten Grün der Fliedersträucher, die unser Haus wie eine undurchdringliche Wand zur Straße hin abschirmten. Sie hingen voll von dicken Blütenrispen, die einen betörenden Duft aussandten.
Ich versank in meinen Gedanken. Es würde noch spannend werden, wie der restliche Garten im Sommer aussah. Wir waren erst im vergangenen Herbst eingezogen, in dieses etwas verwohnte, aber sehr
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