Norden ist, wo oben ist
tiefer im Wasser landet. Wie Silvester beim Bleigießen. Es ist ein Wunder, dass uns noch keiner der Blitze getroffen hat.
Mel scheinen die hohen Wellen, die das Boot wie auf einer Riesenwippe auf-und abkippen lassen, überhaupt nichts auszumachen. Sie wartet immer noch auf eine begeisterte Reaktion von mir.
Ich werde nervös. Wenn sie noch länger am Kajüteneingang steht, schlägt die nächste Welle ins Boot. Dann ist bald so viel Wasser im Schiff, dass wir untergehen und jämmerlich ertrinken. Ein ziemlich kurzes Abenteuer wäre das gewesen, und auch ziemlich ärgerlich, weil die Ferien ja gerade erst begonnen haben.
„Mach schon mal warm“, rufe ich Mel durch den Sturm zu, damit sie endlich die Tür zumacht.
Mel streckt den Daumen hoch, um zu zeigen, dass sie das für eine gute Idee hält. Dann verschwindet sie und schließt die Tür hinter sich. Mir ist mittlerweile so übel, dass ich Ertrinken durchaus für eine erwägenswerte Alternative halte. Ganz egal, wie viele Ferientage noch vor mir liegen.
„Wäre es nicht besser, irgendwo am Ufer abzuwarten, bis der Sturm vorbei ist?“, ruft Mel hinter mir. Sie ist zurückgekommen, und weil sie eine der kurzen Pausen zwischen den Donnerschlägen erwischt, kann ich sie sogar verstehen.
Ich nicke Mel zu und brülle: „Hatte ich gerade vor!“
Dann drehe ich das Steuer in die Richtung, in der ich das nächstliegende Ufer vermute. Es ist immer noch schrecklich dunkel und auf die Blitze kann man sich auch nicht verlassen. Ich bemühe mich, die Wellen so anzuschneiden, dass sie uns nicht von der Seite erwischen und einfach umwerfen. Das klappt nicht immer. Wenn uns eine der Wellen seitwärts erwischt, legt sich das Schiff quer und die ganze Welt sieht aus, als hätte man sie um 90 Grad gedreht.
Aus der Kajüte ertönt Poltern und Scheppern.
„Pass doch auf! Die Pizza!“, brüllt Mel von unten, als wäre ich persönlich für das Unwetter verantwortlich.
Irgendwie schaffe ich es, das Boot ans Ufer zu steuern, und irgendwie lenkt mich das konzentrierte Steuern von meiner Übelkeit ab. Vielleicht lässt auch das Unwetter nach, jedenfalls geht es mir schon etwas besser. Es gelingt mir sogar, den schweren Anker über Bord zu werfen. Ich habe keine Ahnung, wo wir sind, aber das ist mir im Moment völlig gleichgültig.
Wir haben den Sturm überlebt!
Und schlecht ist mir auch nicht mehr.
Im Gegenteil, ich habe Hunger.
Als ich in die Kajüte hinuntergehe, um die nassen Sachen loszuwerden, hat Mel eine Karte vor sich ausgebreitet. Darauf ist das gesamte Seengebiet eingezeichnet und das ist ziemlich groß. Wenn man wollte, könnte man auf den Seen, Flüsschen und Kanälen von hier bis zur Ostsee schippern, ohne nur einmal festen Boden berühren zu müssen.
„Da!“ Mel zeigt mit ihrem Finger auf einen Punkt am nördlichen Rand der Karte.
„Was, da?“, frage ich und nehme die Maske vom Kopf.
„Da fahren wir hin. Ich habe es mir angeguckt. Ist gar kein Problem!“
„Wie jetzt?“
„Ganz einfach. Zurück in die Villa können wir nicht, da sind wir aufgeflogen. Wahrscheinlich sind die Bullen hinter uns …“
„Die Polizei?“, rufe ich entsetzt.
„Mach dir mal nicht in die Hose! Noch haben die uns nicht. Wir nehmen nur die ganz kleinen Kanäle. Da treffen wir kein Schwein und in null Komma nichts sind wir oben an der Ostsee!“
„Es heißt nicht oben, es heißt Norden“, korrigiere ich sie.
„Mir doch egal, wie das heißt“, erwidert Mel, ohne sich zu mir umzudrehen.
„Und was machen wir im Norden? “, frage ich.
„Na, was wohl?! Wir besuchen meinen Bruder. Also meinen richtigen Bruder. Der lebt in Rostock, habe ich doch schon gesagt. Hast du Hunger, Elvis?“
Für Mel ist die Diskussion damit beendet. Es interessiert sie gar nicht, was ich will, und eigentlich wäre das genau der richtige Moment, um ihr zu sagen: „Hör mal, das Boot gehört meinem Vater, und wenn hier jemand sagt, wo es hingeht, dann bin ich das und sonst niemand. Und bei der Gelegenheit kannst du mir gleich mal meine 1.145 Euro wiedergeben!“ Aber dafür ist es längst zu spät. Es ist wie in einem Moor. Wenn man sich zu tief hineinverirrt, versinkt man irgendwann und ist unrettbar verloren. Ich stecke bis zu den Lippen im Sumpf meiner Lügen und wenn ich jetzt den Mund aufmache, läuft mir der ganze eklige Schmodder in den Hals.
„Vorher ziehst du dir aber deine Sachen aus! Du tropfst im Süden “, sagt Mel.
„Wo?“
„Na, da unten!“, erwidert sie grinsend und
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