Norden ist, wo oben ist
Erspartes nicht in Gold angelegt habe. Das wäre sofort auf den Grund gesunken und dann hätte ich in der schwarzen Brühe auch noch tauchen müssen.
So reicht es, wenn ich die Decke abwerfe und hinterherspringe. Das Wasser ist kalt und sofort bereue ich meine spontane Aktion. Eigentlich sollte es genau umgekehrt sein: Mir kann das Geld egal sein, mein Vater hat schließlich genug davon. Mel sollte diejenige sein, die einhändig im Wasser herumpaddelt, weil sie mit der anderen Hand die Scheine einsammelt. Aber Mel steht an Deck und kriegt sich vor Lachen gar nicht mehr ein.
„Da vorne ist noch einer!“, brüllt sie giggelnd und zeigt auf einen Fünfziger, der langsam davontreibt.
Es ist der Letzte, der noch fehlt, und mit zwei Schwimmzügen habe ich ihn erreicht.
Als ich meinen Arm ausstrecke, schießt plötzlich ein riesiger Fisch aus dem Wasser. Der Barsch oder Hecht oder Hai – woher soll ich das wissen, es geht alles furchtbar schnell – schnappt sich den Fünfziger und verschwindet damit in den finsteren Tiefen des Sees.
Ich zittere am ganzen Körper, und das liegt nicht nur am eiskalten Wasser. Dieser Hai, oder was auch immer es war, hätte mir glatt den Finger abbeißen können oder gleich die ganze Hand, wenn ich den Bruchteil einer Sekunde früher nach dem Geldschein gegriffen hätte.
„Das ist überhaupt nicht lustig!“, brülle ich Mel an, die sich an der Reling festhalten muss, damit sie vor Lachen nicht umfällt. Mit den Scheinen in der linken Hand schwimme ich schnell zurück zum Boot. Ich will raus aus dem Wasser, weil ich Angst habe, dass dem Hai der Fünfziger geschmeckt hat. Dann kommt er vielleicht zurück, um sich Nachschub zu holen. Wer weiß schon, was in dem Kopf von so einem Killerfisch vor sich geht?
Mel reicht mir ihre Hand, um mir an Bord zu helfen. Das wäre eine gute Gelegenheit, sie mit einem Ruck in den See zu befördern. Als Rache dafür, dass sie die ganze Zeit gelacht hat. Ich versuche es kurz, aber Mel hält dagegen. Man sieht ihr gar nicht an, wie kräftig sie ist.
„Und jetzt Kurs Richtung oben“, verkündet Mel, um mich zu ärgern.
Ich habe mich wieder in die Wolldecke gewickelt und lasse mich nicht provozieren, sondern starte schweigend den Motor. Direkt neben dem Steuerrad befindet sich der Schiffskompass. Die Nadel zeigt nach Süden und das bedeutet, dass ich das Boot erst mal wenden muss. Als uns der Kompass die richtige Richtung weist, gebe ich ein bisschen Gas. Gerade so viel, dass wir flott über den See schippern, es an Bord aber nicht ungemütlich wird. Irgendwas zwischen tuckern und brausen, würde ich sagen.
Der Schiffsbug zerschneidet das Wasser und verteilt die Stöcke, die überall im Wasser treiben, mal auf die rechte, mal auf die linke Seite des Rumpfes. Die morschen Äste, die der Sturm von den Bäumen am Ufer ins Wasser gefegt hat, sind die einzigen Zeichen des Unwetters. Der Himmel über uns ist wieder ganz blau, abgesehen von ein paar weißen Wolken, die wie Zuckerwatteflocken aussehen. Es ist richtig schön. Trotzdem behalte ich die feuchte Wolldecke weiter um meine Schultern geschlungen, weil ich außer meiner nassen Boxershorts darunter nichts anhabe. Dabei guckt Mel nicht einmal. Sie nimmt ein Sonnenbad auf dem Vorderdeck. Dort liegt sie dösend auf dem Rücken und hat die Augen geschlossen. Über ihr flattern die Scheine, die wir zum Trocknen an eine Wäscheleine gehängt haben, und würde uns jemand begegnen, sähe das für den bestimmt ziemlich schräg aus.
Wenn ich meine Augen auch zumachen würde – was ich natürlich nicht tue, weil ich ja steuern muss –, könnte ich mir glatt vorstellen, dass wir zwei auf unserer Jacht durchs Mittelmeer cruisen. Wir sind auf dem Weg nach Monte Carlo, um uns dort das Formel-1-Rennen anzuschauen. Ich war da mal mit meinem Vater, aber eigentlich war es blöd, weil die Wagen viel zu schnell an der Tribüne vorbei waren und die ganze Stadt nach Benzin gestunken hat. Deswegen würde ich mit Mel auch nur kurz in Monte Carlo bleiben und dann weiter nach Nizza oder Cannes schippern. Da ist es schöner. Die Vorstellung gefällt mir so gut, dass ich sogar den Duft der Pinienwälder am Ufer zu riechen glaube.
Dann fällt mir plötzlich der Fall dieser beiden Franzosen ein, die mit ihrem Katamaran vor der Küste Jemens gesegelt sind. „Tribal Kat“ hieß das Schiff, und als es gefunden wurde, war niemand mehr an Bord, aber an Deck waren überall Einschusslöcher. Die Frau hat man später aus der Hand
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