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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Bertram
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kapieren.
    Mel atmet einmal tief durch, dann steht sie auf.
    „Weißt du, was wir machen?“
    Ich schüttele den Kopf, weil ich keine Ahnung habe, was sie vorhat, und lieber nichts Falsches sagen möchte.
    „Wir versenken unsere Handys! Die kriegen eine feierliche Seebestattung!“
    „Spinnst du?“
    „Überhaupt nicht. Wenn wir die nicht loswerden, haben wir ruckzuck die Bullen an den Hacken.“
    Mel greift über den Tisch und nimmt mir mein iPhone aus der Hand. Dann dreht sie sich um und steigt die steile Stiege hinauf, die von der Kajüte an Deck führt.
    „Ich gehe nach Norden. Kommst du mit?“
    Ich hole Mel erst ein, als sie schon an der Reling steht. Sie hat in jeder Hand ein Handy und starrt auf das schwarze Wasser des Sees. Auch wenn es aufgehört hat zu regnen und zwischen den Wolken wieder blauer Himmel zu sehen ist, fühlt sich die Luft kühl an. Ich wickle mich tiefer in meine Decke, damit ich nicht friere.
    „Muss das sein?“, frage ich Mel.
    „Klar muss das sein“, antwortet sie und holt aus.
    Dann schleudert sie ihr Handy in den See hinaus. Sie geht dazu etwas in die Knie, um es wie einen flachen Stein über die Wasseroberfläche flitschen zu lassen. Das klappt ziemlich gut. Siebenmal hüpft das Telefon über den See und beim vierten oder fünften Mal piepst es sogar, weil wieder eine SMS eingeht. Was darin stand, werden wir nie erfahren, weil das Handy kurz danach im Wasser versinkt.
    „Jetzt du!“, sagt Mel und reicht mir das iPhone.
    Das Gerät ist für mich mehr als nur ein mobiles Telefon. Da sind meine ganzen Kontakte, meine Musik und sogar meine Lieblingsfilme drauf. Und vor allem meine Fotos, die aus der Zeit, als meine Eltern noch zusammen waren.
    Das iPhone ist mein Leben.
    „Das ist Umweltverschmutzung“, versuche ich Mel zu überzeugen.
    Mel sagt nichts. Sie schaut mich einfach nur an.
    „Und wie sollen wir unsere Eltern erreichen, wenn uns was passiert? Wie sollen wir dann Hilfe holen?“
    Dass mir das nicht früher eingefallen ist! Jetzt muss sie einknicken.
    „Wir sind Desperados. Gesetzlose. Outlaws. Solche wie wir kriegen keine Hilfe mehr. Ab jetzt sind wir ganz auf uns gestellt“, erwidert sie, und so, wie sie mich ansieht, meint sie das ernst.
    „Aber …“
    „Kein Aber. Wir sind Bonny und Clyde, nur dass wir statt einer echten Knarre die hier haben“, sagt Mel und zieht die Seifenpistole aus ihrem Hosenbund.
    Das macht mir ein bisschen Angst. Bonny und Clyde sind in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts mordend und raubend quer durch die USA gezogen. Am 23. Mai 1934 starben sie in einem Kugelhagel.
    Tolle Aussichten!
    „Mach schon“, drängelt Mel mit diesem Blick, der keinen Widerspruch duldet und unter dem ich mich ganz klein fühle, so als wäre sie die mit den Millionen und ich der arme Schlucker.
    Ich zucke mit den Achseln, hole ebenfalls weit aus und lasse mein Smartphone über den See flitschen. Mels Rekord breche ich locker. Zwölfmal hüpft das Gerät über die Wasseroberfläche, ehe es untergeht. Das ist keine große Kunst, denn ein Smartphone ist ja auch viel flacher als so ein altmodischer Telefonknochen. Und für einen Moment frage ich mich, warum Apple die tollen Flitscheigenschaften der Geräte eigentlich in der Werbung nicht stärker betont.

 

    „Fühlt sich super an, oder?“ Mel sieht mich an und strahlt.
    „Geht so“, murmele ich.
    Was, wenn sich einer von uns das Bein bricht oder wir uns auf den Kanälen verirren? Klar können wir einfach laut „Hilfe!“ schreien, aber ich bezweifle, dass das jemand hört. Hier draußen leben nicht so wahnsinnig viele Leute. Das ist das deutsche Sibirien, nur ein paar Grad wärmer, weil die Sonne endgültig durchgekommen ist.
    „Überleg mal! Jetzt sind wir richtig frei!“, erklärt Mel begeistert. „So ein Handy ist doch die reinste Hundeleine! Komm, wir machen weiter, Elvis.“
    „Wie weiter?“
    Statt mir zu antworten, holt sie mein Geld aus ihrer Hosentasche.
    „Geld ist auch Scheiße! Der eine hat’s, der andere nicht. Bringt nur Ärger! Und was wirklich wichtig ist, kann man sich damit sowieso nicht kaufen.“ Ehe ich sie aufhalten kann, hat sie den ersten Fünfzigeuroschein ins Wasser geworfen.
    „Spinnst du?! Das brauchen wir noch. Das ist unsere Reisekasse!“, rufe ich und packe sie fest am Handgelenk.
    Damit hat Mel nicht gerechnet. Vor Schreck lässt sie das ganze Geldbündel ins Wasser fallen.
    Die Scheine verteilen sich auf der Wasseroberfläche und ich bin froh, dass ich mein

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