Norden ist, wo oben ist
zeigt auf die Pfütze, die sich zu meinen Füßen auf dem Boden gebildet hat.
Ich habe meine Sachen zum Trocknen aufgehängt, mir eine dicke Wolldecke um die Schultern geschlungen und esse Tiefkühlpizza. Mel hat sie in dem kleinen Küchengrill aufgewärmt und dafür, dass ich kein großer Fast-Food-Fan bin, schmeckt sie ganz passabel. Aber wahrscheinlich fände ich im Augenblick auch kalte Pommes lecker, weil ich so schrecklich hungrig bin.
Mel sitzt mir an dem schmalen Tisch gegenüber und stopft sich ein riesiges Stück Pizza in den Mund.
„Ist gar nicht weit“, erklärt sie schmatzend. „In drei oder vier Tagen können wir es schaffen. Pizza gibt es genug, und wenn die alle ist, haben wir immer noch die Kohle von dem Schnösel aus dem Schloss.“ Mel klopft sich auf die Hosentasche, in der mein Geld steckt. „Wir müssen nur immer weiter nach oben, dann kommen wir automatisch zur Ostsee.“
„Du meinst nach Norden!“
„Nach oben! Sag ich doch“, erwidert Mel kauend. „Wir brauchen bloß dem Kompass zu folgen. Ist ganz einfach.“
„Meinetwegen!“, sage ich, weil ich, ehrlich gesagt, so langsam Geschmack finde an diesem Bootstrip. Warum nicht ein bisschen unterwegs sein und durch Mecklenburg-Vorpommern tuckern? Es gibt so viele schöne Ecken in Deutschland, sagt meine Mutter immer und dann reist sie doch lieber um die halbe Welt, anstatt sich zu Hause etwas umzusehen.
„ Meinetwegen? Ist das alles, was dir dazu einfällt?“ Mel hört für einen Moment auf, sich ein Pizzastück nach dem anderen in den Mund zu schieben. Wenn sie weiter so viel isst, reichen unsere Vorräte noch genau bis morgen Mittag. „Ein bisschen mehr Begeisterung, wenn ich bitten darf! Wir machen eine richtige Kreuzfahrt! Also freu dich gefälligst! Ich dulde nämlich keine schlechte Laune. Das ist Meuterei und wer meutert, geht über die Planke. Verstanden?!“
Mels Motivationsrede wird von ihrem Handy unterbrochen, das eine eingegangene SMS meldet.
„Nervmama“, stöhnt Mel und starrt nachdenklich auf das Display. „Die Dinger sind gefährlich. Damit können sie uns überall orten.“
„Wer kann uns orten?“, frage ich.
„Polizei, Geheimdienste, die Bundeswehr, unsere Eltern. Alle! Die wissen genau, wo du steckst, wenn dein Handy angeschaltet ist. Du starrst doch auch die ganze Zeit auf dein iPhone. Wo hast du das überhaupt her? Die Dinger sind schweineteuer. Hast du das im Laden geklaut oder irgendwem abgezogen?“
Mel übertreibt. Es stimmt nicht, dass ich da immer draufstarre. Höchstens alle zehn Minuten oder so. Könnte ja eine wichtige Nachricht für mich reinkommen. In der Regel checke ich damit aber nur die Entwicklung an der Börse oder schaue nach, wie gerade das Wetter in Yuma ist. Yuma liegt in Arizona und ist einer der sonnigsten Orte auf der ganzen Welt. Deswegen will ich auf keinen Fall den Moment verpassen, wenn es da mal richtig regnen sollte. Ich verfolge das schon seit fünf Jahren und in der ganzen Zeit ist dort noch kein einziger Tropfen vom Himmel gefallen.
„Hab ich einem Typen abgezogen!“, nuschele ich, um Mel zu imponieren.
Großer Irrtum!
„Das ist echt das Letzte! Vielleicht hat der Typ jahrelang dafür gespart und du klaust ihm das einfach!“ Mel ist richtig wütend.
„Nein, nein, der kann das verschmerzen, das weiß ich. Der hat total teure Klamotten angehabt“, verteidige ich mich, obwohl ich ja eigentlich unschuldig bin und mir das iPhone natürlich selbst gekauft habe.
„Gar nichts weißt du! Vielleicht waren die Klamotten secondhand. Vielleicht wollte der nur reich aussehen und war in Wirklichkeit ein ganz armer Schlucker! So wie du!“ Mel zeigt auf meine Sachen, die an einer Leine zum Trocknen hängen. „Du ziehst dich doch auch an, als hätten deine Eltern Unmengen Kohle. Dabei ist dein Vater ein einfacher Klempner. Deine Jeans kostet neu bestimmt hundertfünfzig Euro. Mindestens. Von außen kann man überhaupt nicht sagen, was jemand wirklich ist. Ob der reich ist oder arm oder irgendwas dazwischen. Ist doch alles nur Fassade.“
Mel hat sich richtig in Rage geredet. Ich halte meine Klappe und verkneife mir den Hinweis, dass die Jeans, die an der Leine zum Trocknen hängt, erst ab zweihundertzehn Euro zu haben ist. Mit Gürtel kostet die locker zweihundertfünfzig. Auch dazu, dass sie mir einfach mal so 1.145 Euro geklaut hat, sage ich lieber nichts. Wahrscheinlich ist das bei ihr etwas völlig anderes und ich bin nur zu blöd, den Unterschied zu
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