Norden ist, wo oben ist
somalischer Piraten befreien können, ihren Mann hatten die Seeräuber erschossen und einfach über Bord geworfen. Die waren auch zu zweit auf ihrem Schiff, und ehe die Piraten kamen, haben sie ihre Tour bestimmt genauso genossen wie Mel und ich.
Ich weiß nicht, warum mir immer solche Geschichten einfallen. Aber ich bin jedenfalls heilfroh, dass es hier in der Gegend keine Piraten gibt.
Hoffe ich wenigstens.
Wir haben den See hinter uns gelassen und fahren auf einem schmalen Kanal, der mehr oder weniger der richtigen Richtung folgt, also nach Norden. Rechts und links des Wassers liegen dichte, dunkelgrüne Wälder.
Ein Schiff zu steuern, ist einfacher als Auto fahren. Viel einfacher. Es gibt keine Kreuzungen, man braucht kaum zu schalten und der Verkehr ist bei Weitem nicht so dicht wie auf den Straßen. Weil ich fast ganz sicher bin, dass es hier keine Piraten gibt, kann ich die Fahrt sogar genießen und bedauere nur, keine Kapitänsmütze auf dem Kopf zu haben. Das sähe bestimmt chic aus und verdient hätte ich sie auch. Schließlich bin ich es, der das Steuer in der Hand hat, während Mel faul in der Sonne liegt und darüber nachdenkt, was sie als Nächstes anstellen soll. Es kann aber auch sein, dass sie einfach nur schläft. Hauptsache, sie macht keinen Unsinn. So wie vorhin.
Wenn das Geld weg gewesen wäre, hätten wir ganz schön in der Klemme gesteckt. Pizza gibt es genug, ein Kasten Wasser ist auch da, aber das Schiff ist kein Segelboot. Das braucht Diesel, und wenn der alle ist, muss man neuen kaufen und dann ist es ganz gut, dafür etwas Kohle in der Tasche zu haben.
Auf dem Vorderdeck ist Mel aufgewacht und reckt der Sonne verschlafen die Arme entgegen. Dann dreht sie sich um und lächelt mich an.
„Voll schön hier, oder?“, sagt sie und sieht sehr zufrieden aus.
„Ja, ja“, erwidere ich, weil ich keine Zeit habe, mich um die Aussicht zu kümmern. Der Kanal ist schmaler geworden und ich muss aufpassen, dass ich das Schiff in der Mitte halte, da, wo das Wasser am tiefsten ist. Das würde mir gerade noch fehlen, hier auf Grund zu laufen oder Leck zu schlagen und gnadenlos abzusaufen wie die Titanic.
„Fahr mal näher ans Ufer!“, ruft Mel. „Da wachsen Brombeeren!“
„Das geht nicht!“
„Warum nicht? Wenn ich den Arm ausstrecke, kann ich die während der Fahrt pflücken.“ Mel lehnt sich weit über die Reling, um nach den Beeren zu greifen.
Ich höre nur halb hin, weil ich Brombeeren nicht mag – wegen dieser kleinen, steinharten Körner, die man danach immer zwischen den Zähnen hat – und weil irgendetwas mit dem Motor los ist. Der macht plötzlich ganz komische Geräusche: so eine Mischung aus Röcheln, Glucksen und Würgen. Er klingt ein bisschen wie Mel, als sie ihren Asthmaanfall hatte. Ich kenne mich mit Maschinen nicht besonders gut aus, aber dass das nicht normal sein kann, merke sogar ich. Zum Glück hören die seltsamen Geräusche kurz darauf wieder auf. Das beruhigt mich, weil es ziemlich blöd wäre, wenn wir hier mitten in der Wildnis mit einem kaputten Motor liegen bleiben würden. Vor lauter Erleichterung, dass das röchelnde, glucksende Würgen weg ist, dauert es eine Weile, ehe ich bemerke, dass aus dem Motorenraum gar keine Geräusche mehr kommen.
„Ich hab doch gesagt, dass du nicht extra abbremsen musst. Ich komm da auch so ran“, ruft Mel, als das Boot immer langsamer wird.
Das Wasser in dem Kanal hat so gut wie keine Strömung, und das Einzige, was uns noch vorwärtstreibt, ist die Restenergie der Schiffsschraube. So wie bei einem Spielzeugschiff, dem man in der Badewanne einen Stoß gibt und das ein Stück in den Schaum hineinfährt oder gegen die Badewannenwand schlägt, wo es dann mit Wasser volläuft und untergeht.
Ich schüttele den Kopf, um das Bild von den ertrinkenden Lego-Männchen aus meinem Gehirn zu verjagen.
Dabei fällt mein Blick auf die Tankanzeige, die sich direkt neben dem Kompass befindet. Der Zeiger steht ganz links. Weiter nach links geht es nicht und das ist weit, weit hinter der Markierung, die signalisiert: „Ihr-Tank-ist-bis-auf-den-letzten-Tropfen-leer“.
„Du kannst wieder Gas geben.“ Mel dreht sich zu mir um und hält mir eine Handvoll Beeren entgegen.
„Geht nicht!“
„Wie, geht nicht? Hast du den Schlüssel ins Wasser geworfen?“ Mel lacht, weil sie im Gegensatz zu mir den Ernst der Lage noch nicht erkannt hat.
„Der Tank ist leer!“, antworte ich und deute streng mit dem Zeigefinger auf die Geldscheine,
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