Norden ist, wo oben ist
Schimmer, wer ich wirklich bin! Mir fällt ein Stein vom Herzen und ich muss auch lachen. Kann mich gar nicht mehr einkriegen. Genau wie Mel.
„Und was willst du mit deinem Vater besprechen?“, fragt Mel, als wir uns beide wieder beruhigt haben. „Soll der alte Klempner uns einen Fluchttunnel graben, oder was?“
„Hat sich schon erledigt“, wiegele ich ab und fange wieder an zu strampeln.
Meine Eltern! An die habe ich ewig nicht mehr gedacht. Die machen sich bestimmt schreckliche Sorgen, weil wir doch angeblich in dem Sturm ertrunken sind.
Mein Mitleid hält sich in Grenzen. Selber schuld. Was zerstreiten die sich auch! Wären sie noch zusammen, wäre ich nicht hier mit Mel irgendwo in der deutschen Wildnis.
Während ich weiter trete, hat Mel eine der Chipstüten aufgerissen.
„Auch was?“, fragt sie und hält mir die Tüte hin.
„Nein, danke“, antworte ich, weil ich plötzlich keinen Hunger mehr habe.
„Lieber was Gesundes?“ Mel holt die Kirschbonbons aus dem Helm. „Brüderlich geteilt und schwesterlich beschissen.“
Den Satz habe ich schon ewig nicht mehr gehört. Der kommt aus dem letzten Jahrhundert und gehört zum Sprüche-Repertoire meiner Mutter. Genau wie „Holla, die Waldfee“ oder „Heile, heile Gänschen“. Meine Mutter liebt so was.
Ich frage mich, ob sie und mein Vater genau in diesem Augenblick auf einem Polizeirevier oder bei uns in der Villa hocken und gemeinsam auf die erlösende Nachricht warten, dass ich noch lebe. Bestimmt haben sie ihren Urlaub abgebrochen und sind sofort nach Hause. Und wenn meine Annahme stimmt – und das tut sie ganz sicher –, dann wäre es gut, wenn diese erlösende Nachricht nicht zu früh käme. Es könnte doch sein, dass sie sich wieder vertragen, wenn sie nur lange genug zusammen sind und wieder miteinander reden. Ich habe nicht gesagt, dass das so sein muss. Aber es wäre doch möglich, oder?
Auf einmal blockieren die Pedale. Mel hat auf ihrer Seite den Rückwärtsgang eingelegt. Keine zweihundert Meter vor uns ist eine Schleuse und quer davor liegt die Jacht meines Vaters.
Mel steuert das Tretboot rückwärts zwischen die hohen Schilfpflanzen am Ufer. Dort können sie uns nicht sehen, aber wir sie schon. Sie, das sind die beiden Polizisten, die auf dem Boot herumlaufen und nach uns suchen.
Aus unserem Versteck sehen wir, wie ein dritter Polizist an Deck kommt. Er steht an Bord und blickt sich prüfend um. Ich ducke mich instinktiv.
„Und nun?“, flüstere ich.
Ich betrachte Mel von der Seite und merke, wie sehr es in ihrem Kopf arbeitet: die drei Polizisten vor uns, die Fahndung im Fernsehen, die Suchmeldung im Radio, Erich, der Ladenbesitzer und die Frau vom Bootsverleih, die uns gesehen haben, und unsere leere Reisekasse. Sie denkt, es ist aus und vorbei, und damit liegt sie natürlich völlig richtig.
„Wir stellen uns, was bleibt uns anderes übrig?“, erwidert Mel, und obwohl ich wusste, dass sie das sagen würde, überrascht es mich. So eine vernünftige Antwort hätte ich ihr nicht zugetraut. Und plötzlich weiß ich, dass ich nicht vernünftig sein will. Vielleicht brauchen meine Eltern noch etwas Zeit, um sich zu versöhnen, und wenn wir jetzt schon nach Hause kommen, bleibt alles beim Alten. Das wäre wirklich, was man eine vertane Chance nennt.
Mel tritt in die Pedale. Vorwärts, raus aus dem Schilf und raus auf das offene Wasser, wo die Polizisten uns sehen können.
Trotzdem bewegt sich das Boot nicht von der Stelle, weil ich auf meiner Seite mit aller Kraft dagegenhalte. Mel ist stark. Aber ich gebe alles und das reicht, um das Boot in der Deckung zu halten.
„Wahrscheinlich hast du Recht. Man muss wissen, wann man am Ende ist“, keuche ich. „Das war bei John Dirty Digger genauso. Der hat sich damals in El Paso auch gestellt, als er kapierte, dass er keine Chance mehr hatte. Dann ist er raus aus seinem Versteck und wurde einfach über den Haufen geknallt.“
Der Druck auf Mels Pedalen lässt nach.
„Wieso sollte die Polizei auf uns schießen?“, fragt Mel verunsichert. Das ist neu, so kenne ich sie gar nicht.
Statt ihr zu antworten, starre ich wortlos den Seifenrevolver an, den sie im Hosenbund trägt. Mel runzelt die Stirn, und wenn mir jetzt nicht etwas richtig Gutes einfällt, ist unser Abenteuer hier und jetzt zu Ende.
„Aber darum geht es gar nicht“, sage ich. „Es geht um deinen Bruder. Du bist so knapp davor, ihn endlich zu treffen. Es sind höchstens noch zwanzig Kilometer bis nach
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