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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Bertram
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freundlich, als wir an ihr vorbeikommen.
    Die dicke Tretbootverleiherin schaut nicht einmal von ihrem Handy auf und beantwortet Mels Gruß mit einem unverständlichen Grunzen. Vielleicht hat sie gesagt: „Willkommen in unserem schönen Örtchen. Ich hoffe, ihr habt eine unvergessliche Zeit und genießt euren Aufenthalt bei uns.“
    Aber sicher bin ich mir nicht.

 

    Weil am Kanal kein gelbes Ortseingangsschild stand, weiß ich nicht einmal den Namen von dem Kaff, in dem wir gelandet sind. Vielleicht hat es auch keinen, weil es so winzig ist. Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte: Beschissdorf wäre ein guter Name. Der Ort ist der reinste Fassadenschwindel. Vom Wasser aus sahen die Häuser putzig aus, aber ist man erst mal ausgestiegen, offenbart sich das ganze Elend. Es gibt nur eine einzige, ungeteerte Straße. Ein Bürgersteig existiert nicht und ist wohl auch nicht nötig, denn hier kommt sicher nur selten ein Auto vorbei. Und wenn, müsste es sowieso ganz langsam fahren wegen der vielen Schlaglöcher auf der Fahrbahn, die irgendwer notdürftig – echt wahr! – mit alten, verschrumpelten Kartoffeln aufgefüllt hat.
    Mel und ich gehen nebeneinander mitten auf der Straße. Es ist niemand zu sehen, aber ich fühle, dass wir beobachtet werden. Jede Wette, hinter den nikotingelben Vorhängen hocken Ureinwohner, die jeden unserer Schritte durch einen alten, russischen Militärfeldstecher verfolgen.
    Ich kann die armen Leute verstehen. Für die Hinterwäldler dürften wir beide – um es mal vorsichtig auszudrücken – recht ungewöhnlich aussehen. Ich mit meiner Fechtausrüstung und dem Florett, das mir lässig am Gürtel baumelt. Mel mit dem Fuchspelz um den Hals und der Seifenpistole im Hosenbund.
    Es ist wie im Wilden Westen. Mel und ich sind die zwei Fremden, die mit dem Sattel in der linken Hand – damit sie mit der rechten schnell ihren Colt ziehen können – auf der Suche nach einem Saloon über die staubige Dorfstraße laufen. Exakt jetzt müsste ein dritter Revolverheld auf die Straße treten und uns zu einem Schusswechsel fordern, den mindestens einer der Beteiligten nicht überleben wird.
    Aber das Einzige, was uns über den Weg läuft, ist eine schwarze Katze, die uns einen Moment lang misstrauisch betrachtet, ehe sie schnell unter einem Fliederstrauch verschwindet.
    „Das war knapp!“, sagt Mel und atmet hörbar aus.
    „Was war knapp?“, frage ich verständnislos.
    „Na, die Katze. Die kam von rechts. Wäre die von links gekommen, hätten wir jetzt ein Problem.“
    Ich habe nicht gewusst, dass Mel abergläubisch ist.
    „Du glaubst doch nicht etwa an so einen Quatsch?“, erwidere ich.
    „Du nicht?“ Mel sieht mich an, als könnte sie nicht fassen, dass jemand solchen Hokuspokus anzweifelt.
    „Nicht wirklich“, antworte ich ausweichend. „Meinst du, es gibt hier überhaupt einen Supermarkt, in dem wir etwas einkaufen können? Die betreiben hier bestimmt noch Tauschhandel. Und wenn nicht, bestehen die Einwohner auf Gold-oder Silbermünzen. Die nehmen ganz sicher kein Papiergeld.“
    „Red keinen Blödsinn“, erwidert Mel. „Die Katze kam von rechts. Das Glück ist auf unserer Seite. Schau! Da ist schon ein Laden.“
    Mel zeigt nach vorne. In einem der kleinen Häuser ist tatsächlich ein Geschäft. Nicht gerade ein Supermarkt, eher so ein Tante-Emma-Laden. Immerhin scheint es etwas zu essen zu geben, denn vor dem Laden stehen zwei Kisten mit dunkelbraunen Bananen und Äpfeln, die man leicht mit Mirabellen verwechseln könnte, so klein sind die.
    Palimpalim macht die Glocke über der Tür, als wir den Laden betreten. Hinter einer Theke steht ein schlecht rasierter Mann und liest in einem Buch. Leider kann ich nicht sehen, was es ist, aber mit den vergilbten Seiten sieht es genauso alt aus wie der Verkäufer in seinem grauen Kittel mit den spärlichen weißen Haaren auf dem Kopf. Das Buch muss furchtbar spannend sein, denn er schaut nur kurz auf, als wir hereinkommen. Das ganze Dorf scheint sich abgesprochen zu haben, uns trotz unserer seltsamen Kleidung komplett zu ignorieren. Mir soll es recht sein. Je weniger Fragen gestellt werden, desto besser.
    Über dem lesenden Verkäufer hängt ein Fernseher von der Decke, in dem eine Nachmittagstalkshow läuft. Die Sendung ist schon fast am Ende, und wenn ich das richtig verstehe, geht es um einen Jungen, der seiner Freundin vorgelogen hat, dass seine Eltern eine Villa mit Pool und eine eigene Jacht besitzen. Dabei sind die in Wahrheit ganz arm

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