Norden ist, wo oben ist
Rostock. Das laufen wir zur Not auch zu Fuß. Wir gehen einfach nachts, dann sieht uns keiner. Du kannst doch so kurz vor dem Ziel nicht aufgeben!“
Zugegeben, das mit den zwanzig Kilometern war geschätzt, grob geschätzt. Es können auch zweihundert sein. Aber die Sache mit John Dirty Digger habe ich mir ja auch nur ausgedacht.
Mel hat ihre Füße von den Pedalen genommen.
„Willst du deinen Bruder sehen oder nicht?“, schiebe ich schnell hinterher.
Mel starrt eine Weile durch das Schilf auf die drei Polizisten.
„Da vorne an der Schleuse wäre ohne Geld und ohne Erwachsene sowieso Schluss gewesen“, sagt Mel und klingt wieder ganz wie die Alte. „Wir hätten eh umsteigen müssen. Und zwanzig Kilometer sind wirklich nicht mehr so wahnsinnig weit.“
„Möglich, dass es ein paar Kilometer mehr sind …“
„Macht nichts, wenn es sein muss, schaffe ich auch fünfundzwanzig. Bin ich mal beim Wandertag gelaufen.“
Mel stellt die Füße zurück auf die Pedale und fährt rückwärts durch das Schilf, bis das Tretboot mit dem Heck an Land stößt. Dort springen wir ans Ufer und schlagen uns mit unseren Vorräten in das dahinterliegende Maisfeld. Nach etwa zehn Minuten treffen wir auf einen Pfad, den jemand in das Feld getrampelt hat. Wir folgen ihm, weil er uns ja irgendwie rausführen muss. Tut er aber nicht. Nach zehn Minuten sind wir wieder da, wo wir schon waren.
„Wir sind im Kreis gelaufen“, sagt Mel, als hätte ich das nicht selber schon bemerkt. „Das war unsere eigene Spur, Cheyenne.“
„Was du nicht sagst“, erwidere ich.
„Ich dachte, ein Indianer wie du könnte sich besser orientieren.“
„Sehr witzig!“
„Ich fand das komisch“, sagt Mel, dann legt sie mir die Hand auf die Schulter. „Egal. Wir wollten sowieso nur nachts laufen, damit wir niemandem begegnen.“
Mel lässt sich auf den Boden fallen.
„Und wie sollen wir hier rausfinden, wenn es dunkel ist? Dann sehen wir ja noch weniger.“
„Mit den Sternen, du Schlaukopf. Wir brauchen nur dem Polarstern zu folgen, dann kommen wir ganz automatisch nach oben, da wo die Küste ist.“
„Norden, nicht oben.“
„Von mir aus auch dahin, Klugscheißer. Lass uns erst mal was essen und dann eine Runde pennen“, schlägt Mel vor und reißt eine Tüte Erdnussflocken auf. „Das ist ein super Versteck. Hier finden sie uns nur mit einem Heli!“
„Oder mit einer Erntemaschine, die über uns drüberfährt und in eine Million Teile zerhäckselt.“
Ich habe das mal in einer Doku gesehen. Jährlich finden zig Rehkitze auf diese Weise ein blutiges Ende. Das war nicht schön anzusehen.
„Keine Bange, so ein Ding verursacht einen Höllenlärm. Das hört man meilenweit. Jetzt iss lieber was. Du brauchst ein bisschen Mumm in den Knochen für unsere kleine Nachtwanderung.“
Nach der dritten Tüte Erdnussflips ist mir so übel, dass ich nicht einschlafen kann. Mel hat damit keine Probleme. Sie hat sich aus den Maispflanzen eine Art Matratze gemacht, ihren Kopf auf das Fuchsfell gebettet und schnarcht. Ich wundere mich, wie sie so ruhig bleiben kann. Selbst wenn mir nicht schlecht wäre, hätte ich in dem Maisfeld aus Angst vor den Erntetraktoren kein Auge zugetan. Der Mais ist nämlich schon überreif.
Es ist aber dann doch kein Mähdrescher, sondern ein Helikopter, der uns in der Abenddämmerung aus dem Feld vertreibt. Er kreist über der Schleuse, und es ist kaum zu glauben, aber Mel schläft trotz des Lärms ungerührt weiter.
„Steh auf! Wir müssen weg!“ Ich rüttele heftig an ihrer Schulter. Trotzdem dauert es ein paar wertvolle Sekunden, ehe sie wach ist.
„Was ist denn los?“, fragt sie verschlafen.
„Ein Polizeihubschrauber! Wir müssen sofort verschwinden!“
Eins muss man Mel lassen. Ihre Reflexe sind erstaunlich. Als sie den Ernst der Lage endlich gepeilt hat, springt sie sofort auf, stopft den Müll und die restlichen Vorräte in meine Maske und zieht mich hinter sich her zwischen die hohen Maispflanzen. Geduckt laufen wir durch das Feld.
Der Polarstern ist nirgends zu sehen, weil der Himmel bewölkt ist. Es sieht auch nicht so aus, als wenn es heute Nacht aufklaren würde. Also laufen wir einfach in irgendeine Richtung. Norden, Süden, Osten, Westen – unsere Chancen stehen eins zu vier, dass wir die richtige Himmelsrichtung erwischen. Wichtig ist, dass wir schnell die Maislichtung hinter uns lassen. Die ist vom Hubschrauber aus bestimmt super zu erkennen.
Der Helikopter hat seine Position über der
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