Norden ist, wo oben ist
auf die Straße, ohne auf das Wechselgeld zu warten.
Ich hinterher.
Als wir den halben Weg zurück zum Boot geschafft haben, reißt der Henkel von der Plastiktasche und unsere Einkäufe verteilen sich auf der staubigen Straße.
„Gib schon her!“, raunzt Mel mich an.
„Was denn?“
„Deinen Helm! Was sonst?!“
Ich ziehe die Fechtmaske ab und reiche sie ihr, obwohl ich dadurch meine Tarnung verliere. Mel lässt die Birnen und die Möhren liegen und räumt nur die Chips, die Erdnussflocken und die Kirschdrops in meine Maske. Dann klemmt sie sich den prall gefüllten Helm unter den Arm und rennt weiter. Ich schaue mich um, aber niemand verfolgt uns. Wahrscheinlich hat der Verkäufer noch gar nicht geschnallt, was los ist. Oder er betrachtet das großzügige Wechselgeld, das Mel zurückgelassen hat, als eine Art Schweigegeld und lässt uns deswegen unbehelligt laufen. Die fünfzig Euro waren jedenfalls mehr als genug, selbst wenn er die geklauten Schokoriegel mit auf die Rechnung gesetzt hätte.
Hinter den Gardinen rechts und links der Straße ist keine Bewegung zu erkennen. Aber ich gehe jede Wette ein, genau in diesem Moment haben uns mindestens ein Dutzend Schrotflinten ins Visier genommen. Ich hätte jetzt gerne meinen Helm, aber den hat Mel und die hat schon fast den Anleger erreicht.
Als ich sie atemlos am Steg einhole, ist die dicke Tretbootverleiherin mit ihrem Liegestuhl und der Geldkassette verschwunden.
Unser Schiff auch.
„Verdammt! Die Alte hat unser Boot geklaut“, ruft Mel ehrlich empört, als hätte sie nicht gerade eben selbst noch ein paar Schokoriegel mitgehen lassen. Von meinem Gesparten mal ganz zu schweigen. Deswegen finde ich ihre Empörung etwas geheuchelt.
Außerdem glaube ich das auch gar nicht. Ich habe einen anderen Verdacht.
„Bist du sicher, dass du es richtig festgemacht hast?“, frage ich Mel.
„Klar doch! Meinst du, ich bin blöd?!“
„Wie hast du es festgemacht?“
„Mit einer Schleife. Ich habe eine Schleife in das Seil gemacht.“
„Du hast was?“
„Hörst du schwer?! Schleife! Das ist diese Schlaufe, mit der man Schnürschuhe zubindet.“
Anstatt zu antworten, stöhne ich nur.
„Ist was?“, erkundigt sich Mel besorgt.
„Und wie oft ist dir diese Schlaufe, mit der du deine Schnürschuhe zubindest, schon aufgegangen?“
„Ich trag keine Schnürschuhe. Nur welche mit Klettverschluss oder Reißverschlüssen.“
Ich stöhne erneut. „Rate mal, warum es spezielle Seemannsknoten gibt? Na? Damit das Schiff am Steg liegen bleibt und nicht einfach davontreibt, weil sich die Schleife gelöst hat. Deswegen!“
„Meinst du …“
„Klar meine ich! Unser Schiff ist auf dem Weg Richtung Ostsee. Aber ohne uns.“
Für einen Moment sieht Mel wirklich betroffen aus. Fast tut es mir leid. Aber im nächsten Augenblick springt sie mit meinem Helm unterm Arm auf eines der Tretboote, die am Anleger festgemacht sind.
„Kein Problem, das holen wir ein! Komm!“
Ich hechte hinterher, weil der Diebstahl eines Tretbootes jetzt auch keine Rolle mehr spielt. Außerdem leihen wir es uns ja nur so lange, bis wir die Jacht meines Vaters eingeholt haben. Und ehrlich: Die Boote liegen doch da zum Mieten, oder sehe ich das falsch?
„Nun fang schon an zu treten!“, ruft Mel, als ich mich auf die Plastikschale neben sie gehockt habe.
„Und was ist mit dir?“
„Du weißt doch, mein Asthma! Sei ein Goldkind und gib Gas!“
Goldkind!
Mir wird schlecht. Mel weiß Bescheid! Die Nachrichtensendung hat mich verraten! Dabei hatte ich die schon fast wieder vergessen.
Ich trete in die blöden Pedale, als wollte ich eine Alpenetappe bei der Tour de France gewinnen. Es dauert nicht lange und das Kaff ohne Namen bleibt hinter uns zurück. Die Häuser werden weniger, bis sich rechts und links am Ufer nur noch Maisfelder erstrecken. Der Mais steht schon ziemlich hoch und das ist gut so. Dann kann man uns vom Land aus nicht entdecken. Von der Jacht ist weit und breit nichts zu sehen.
Ich hole tief Luft. Ich habe Mel einiges zu erklären.
„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen wegen der Entführung. Ich rede mit meinem Vater …“, beginne ich stockend.
„Das ist echt super!“, unterbricht mich Mel und lacht. Ich schaue sie erstaunt an.
„Dieser Doktor Müller-Frankenstein hat dich glatt mit dem Millionärsbubi verwechselt, der in der Villa wohnt!“ Mel zeigt auf die Fechtjacke. „Wahrscheinlich wegen der da.“
Sie hat keine Ahnung. Mel hat nicht den blassesten
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