Norden ist, wo oben ist
und haben nicht einmal ein Gummiboot. Ich weiß nicht, warum mir plötzlich so komisch wird. Ich kriege richtig Bauchschmerzen. Dabei hat der kleine Schwindler in dem Fernsehstudio überhaupt nichts mit mir zu tun. Bei mir ist es schließlich genau umgekehrt.
Mel kümmert sich nicht um die Talkshow. Sie hat sich einen Einkaufskorb aus rotem Plastik geschnappt und packt Tüten mit Chips und Erdnussflips ein. Zwischendurch lässt sie ein paar Schokoriegel in ihren Hosentaschen verschwinden. Der Mann mit dem grauen Kittel interessiert sich weiterhin nur für sein Buch.
„Magst du Chips lieber mit Salz oder mit Paprika?“, ruft mir Mel zu, die irgendwo zwischen den wenigen Regalen verschwunden ist.
Ich hatte nicht erwartet, dass überhaupt mehrere Sorten zur Auswahl stehen. Das Angebot in dem Laden entspricht ungefähr dem Warensortiment eines Supermarkts in Nordkorea. Es gibt zwei verschiedene Sorten Eintopf, eine Marke Shampoo und drei Gläser Marmelade: Bitterorange, Quitte und Stachelbeere.
„Sollten wir nicht auch etwas Obst kaufen? Oder eine Packung Müsli?“, frage ich, als ich Mel einhole.
„Wozu?“, fragt sie zurück.
„Vielleicht, weil es gesünder ist als das da?“, gebe ich zurück und zeige auf den vollen Einkaufskorb.
Mit dem, was Mel bereits hineingeschaufelt hat, könnte man eine Grundschulklasse so mästen, dass alle in ein Diätprogramm für fette Kinder aufgenommen werden müssten.
„Meinetwegen“, antwortet Mel und lädt achselzuckend eine Packung Kirschbonbons in den Korb. „Reicht das?“
„Sehr witzig“, erwidere ich und packe frische Birnen und Möhren in eine braune Papiertüte, auf der Esst mehr Obst und Gemüse steht.
Mit dem Korb und der Tüte gehen wir zur Kasse. Der Alte schaut immer noch nicht auf, während er die Waren nimmt und die Preise per Hand eintippt. Die Talkshow ist zu Ende, der kleine Schwindler hat alles gestanden und sich bei seiner Freundin entschuldigt.
Jetzt laufen Nachrichten und zuerst bringen sie einen Beitrag über ein Länderspiel zwischen Deutschland und Frankreich, das morgen Nachmittag ausgetragen wird.
„Ihr seid nicht von hier, oder?“, erkundigt sich der Verkäufer, als er die fünfte Tüte Chips in die Kasse eingibt und danach in eine Plastiktasche packt.
„Nö, ich und mein Bruder, wir sind nur auf der Durchreise. Unsere Eltern warten auf unserem Schiff auf uns. Das liegt da vorne am Anleger“, erklärt Mel und deutet unbestimmt die Straße runter.
Der Alte hat schon wieder das Interesse an uns verloren. Auch weil im Fernsehen die nächste Meldung kommt. Er muss sich den Hals verrenken, um den Bildschirm sehen zu können. Dabei bräuchte er das gar nicht, weil das, was sie dort zeigen, direkt vor ihm in seinem Laden steht.
Die zweite Meldung in den Nachrichten sind nämlich wir, Mel und ich. Im Fernsehen zeigen sie ein Foto von Mel, das schon ein paar Jahre alt sein muss. Die Nachrichtensprecherin erzählt dazu aus dem Off: „Der Fall der vermissten Melanie Kosslowski zieht weitere Kreise. Die Elfjährige, die aus einem problematischen Elternhaus stammt, wird verdächtigt, den jungen Millionärserben Paul-Antonius-Philipp Mühlenberg entführt zu haben.“ Jetzt steht unser Nachbar, Doktor Schneider-Wagenfels, vor der Kamera. Sein Name wird auf dem Bildschirm eingeblendet, während er aufgeregt erzählt: „Ich habe gesehen, wie das Mädchen den armen Jungen gezwungen hat, vor mir wegzulaufen. Sie ist mit ihm auf die Jacht seiner Eltern geflüchtet, ehe ich sie einholen konnte, und dann kam dieser schlimme Sturm. Tragisch ist das!“
Nun ist wieder die Nachrichtensprecherin dran: „Die Wasserschutzpolizei sucht seit gestern den See nach dem Boot und den Kindern ab. Bislang ohne Erfolg. Man könne das Schlimmste nicht mehr ausschließen, so ein Beamter der Sonderkommission …“
Das war’s. Jetzt ist alles vorbei.
Mel weiß Bescheid und der Verkäufer wird gleich die Polizei rufen. Seine Blicke wandern wie bei einem Tennismatch zwischen uns und dem Bildschirm hin und her und es ist nur noch eine Frage von Millisekunden, bis er das eine mit dem anderen in Verbindung setzt, und da nützt es gar nichts, dass ich mir meine Fechtmaske über den Kopf ziehe. Ich tue es trotzdem.
Plötzlich geht alles ganz schnell. Mel greift mit der linken Hand in ihre Hosentasche, schmeißt unseren letzten Fünfziger auf die Theke, schnappt sich mit der rechten die Tüte mit den Einkäufen, brüllt „Los, schnell raus hier, Justin!“ und läuft
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